Doping: Escande, J.-P. – Mediziner und Dopingexperte

Die Rolle der Ärzte im Dopingkomplex und Suchtproblematik

Jean-Paul Escande, Desillusionierung auf ganzer Linie

Jean-Paul Escande, Präsident der Französischen Antidoping-Kommission (la Commission nationale de lutte contre le dopage) von 1990-1996, hat im Laufe der Jahre seine Einstellung gegenüber der Dopingfrage geändert. Zu Beginn seiner Tätigkeit davon überzeugt, etwas bewirken zu können, erscheint ihm der Kampf gegen Doping fast vergeblich, es scheint ihm zukünftig nicht mehr möglich, den Sportlern chemische Unterstützung zu verwehren.

Im Jahre 2003 veröffentlicht er ein Buch, indem er seine Erfahrungen darlegt, eine Besprechung gibt es hier .

In einem Interview mit l’Humanité, erschienen am 1.7.2003, spricht Jean-Paul Escande über seine Gedanken und Vorstellungen: “ Nous sommes passés du dopage à l’expérimentation humaine “

Auszüge:

ES IST KEIN DOPING MEHR, ES SIND EXPERIMENTE MIT MENSCHEN

Sie stellen fest, dass Doping im Sport generell verbreitet sei. Welche Beweise und Informationen haben Sie, um das behaupten zu können?
Das ist das Thema meines Buches: Da man überall auf Gerüchte stößt, muss man das Problem studieren. Sie können keine Zeitung öffnen, ohne zu lesen, Doping ist ein allgemein verbreitetes Phänomen. Vor kurzem zeigte sich Nathalie Tauziat (ehemalige Tennisspielerin) erstaunt über die körperlichen Veränderungen der Spielerinnen. Wenn ich andere treffe, die den Sport lieben wie ich, sprechen sie alle nur von Doping. Ich kann nicht glauben, dass diese Gerüchte unbegründet sind.

Andererseits sehe ich, dass es keine ernsthaften Studien gibt über Gedopte, das Doping. Wenn Marielle Goitschel (2) sagt, auf dem Podium seien alle 100% gedopt, ist das genauso wahr wie die Aussage, niemand ist gedopt.

An unserer Gesellschaft macht mir die Komödie Angst, die abläuft, da ein ganzes System damit beschäftigt ist, die Wahrheit über ein Problem zu verleugnen. Ich habe die ‚affaire du sang contaminé‘ (schwerwiegende Affaire um mit AIDS verseuchte Blutkonserven) miterlebt. Ich sehe die Katastrophe kommen. Familien werden anklagen und nicht aufhören die Frage zu stellen: wer hatte damals die Verantwortung?
(…)
Die Omerta ist total. Nehmen Sie das Beispiel Erwan Manthéour. Er behauptete, sein sportlicher Direktor hätte ihm EPO gegeben. Er wurde mit einem zu hohen Hämatokritwert erwischt. Sein sportlicher Direktor kam zu ihm und sagte: „Schwöre mir, dass du nichts genommen hast.“

Es kommt der Moment, da scheint die Lüge Wahrheit zu werden. Einer meiner großen Vorbilder, der Physiker Pierre Auger, sagte mir: „Wir erleben das Natürlichwerden der Techniken.“ Für ein Kind kommt der Strom aus der Steckdose, so wie für mich als Kind das Wasser aus der Quelle kam. Dieser sportliche Direktor lebt in einem System, in dem die Lüge zur Wahrheit wurde.

Sie möchten nicht mehr von Doping sprechen sondern vom Experimentieren mit dem Menschen. Warum?
(…) Gewöhnlich gibt man kranken Menschen Medikamente damit sie genesen. Im Sport experimentiert man mit starken Arzneimitteln. (…) Diese Praktiken begannen vor mehr als zehn Jahren. Ich werde erst in zehn Jahren beruhigt sein. Wenn von heute an viele Leukämiefälle auftauchen sollten, wäre das nicht sehr erstaunlich.

(..) Wer hat jemals den „Cocktail Chiotti“ getestet? Niemand, niemand, niemand! Man spielt mit dem Leben der Leute. Das ist Experimentieren mit Menschen.

Wenn ein Mediziner das macht in Ausübung seines Berufes, muss er damit rechnen, zur Verantwortung gezogen zu werden. Macht er das im Bereich des Sports wird es verborgen, indem man sagt: „Im Urin ist nichts zu finden.“
(…)
Eines Tages sagte ich im Radio zu Mme Buffet (Ministerin) : „Sie sind eher eine Sozialministerin. Also warum kein EPO für den Möbelpacker, der ein Klavier transportieren muss. Und Wachstumshormone für die Hausfrau, die ihre Einkäufe ohne Aufzug in den 8. Stock bringen muss.“ Darüber musste sie lachen. Es stellt sich ein Problem: Was geschähe, wenn man der gesamten Bevölkerung Frankreichs solch eine Behandlung angedeihen lassen würde?

Ich bin soweit alles anzunehmen. Einschließlich, dass wenn man die Leute sich bis zum Anschlag dopen lassen würde, man Hundertjährige fabrizierte. Sollte Doping eine Verbesserung bewirken, wunderbar. Es ist nicht unmöglich, dass wir in 20 Jahren alle gut dosierte Cocktails intus haben, die Leben verlängern und Anstrengungen erleichtern. Ich bin aber nicht bereit zu akzeptieren, dass es einerseits Gesetze gibt, die dazu da sind, die Wirksamkeit und die Gefährlichkeit der Medikamente zu überprüfen und andererseits irgendwelche Hanseln machen was sie wollen.

Sie sehen, ich bin nicht engstirnig. Ich sage nicht: Man muss Doping unterdrücken. Die ganze Gesellschaft dopt sich. Warum verlangt man allein von den Sportlern, es nicht zu tun? Wenn man ein System etabliert, das von den Menschen verlangt sich zu verstecken, öffnet man die Tür für Scharlatane. Das ist für unsere Gesellschaften nicht sehr ruhmreich.

Übrigens, wenn ich von den Experimenten mit Menschen spreche, dann geht das in Richtung Kampf den Dealern, eines der Ziele des Buffet-Gesetzes.
(…)
Einerseits gibt es die extrem wirksamen Medikamente. Glauben Sie mir, wenn ich Sie unter EPO setzen würde, ihr Leben würde sich verändern. Andererseits sollte man nicht vergessen, dass wir Menschen stark mental beeinflussbar sind: Wenn man jemandem sagt, ich gebe dir ein wunderbares Produkt, wird ihm das für ein zwei Jahre sehr gut tun. Das ist der Placebo-Effekt. Im Bereich des Dopings ist das vergleichbar. Das ist übrigens schrecklich, da einige Leute alles was neu ist nehmen, auch Gefährliches. Das ist eine zusätzliche Gefahr.

In der Welt des Sports breitet sich das Phänomen der Übermedikalisierung gefährlich aus. Daher die Frage: Wann beginnt Doping?
Die Grenze ist sehr scharf. In einem Rechtsstaat beginnt das Doping mit dem Gesetz, soll heißen mit den verbotenen Produkten, die im Urin gefunden wurden. Aber es ist klar, das die Übermedikalisierung Probleme aufwirft. Wenn man so viele Stoffe miteinander kombiniert, kennt man die Resultate nicht. (…)

Es ist doch wohl ein Riesen-Unterschied, ob man 4 Guronsan (leichtes Aufputschmittel mit Aspirin, Koffein) am Tag nimmt oder sich mit EPO vollhaut…
Ja zweifellos. Aber für mich dopen sich auch die sieben Millionen Menschen, die Cannabis rauchen.

Einst versuchte man mit der Droge dem (Leben) zu entfliehen, heute ist die Leistungssteigerung das Ziel.

In den Fabriken wurde die physische Anstrengung ersetzt durch die psychische (Stress, Druck, fehlende Anerkennung). Die Typen schlucken ununterbrochen Pillen, da sie mit den dauernden Aggressionen fertig werden wollen, denen sie sich ausgesetzt sehen. Daher, alle dopen sich. Alle wollen stärker sein, entweder um physischen Anstrengungen besser trotzen zu können oder um die Freuden des Lebens besser genießen zu können.

Der ehemalige Präsident des Anti-Doping-Kommittees, der Doping nicht ablehnt, das ist zumindest paradox…
Ich habe daran geglaubt. Und dann habe ich erlebt, dass Leute voller guten Willens gezwungen waren aufzugeben, da die öffentliche Meinung ab einem gewissen Punkt für Doping ist.

Deswegen, wie können Sie behaupten, sie seien nicht gegen Doping?
Ich bin ganz sicher nicht für Doping. Aber ich denke, man kann von den Hochleistungssportlern keine Höchstleistungen verlangen, ohne ihnen eine gewisse chemische Hilfe zu gewähren. Wenn ich mir gewisse Individualsportarten so ansehe, komme ich nicht umhin zu denken: „Derjenige hat gewonnen, der am besten auf die Behandlung angesprochen hat.“

Um das Phänomen des Dopings besser kennen lernen zu können, schlagen sie vor, eine große epidemologische Studie mit ehemaligen Sportlern durchzuführen.
(…) Wenn man eine anonym geführte Studie zu den Krankheiten der Sportler durchführen würde, wüsste man mehr. Für den Anfang könnte man auf das Register der von Wettkämpfen zurückgetretenen Hochleistungssportler zurück greifen. (…)Zum einen, weil es ihnen nützen würde, denn neben einer Handvoll Ehemaliger, die noch zum System gehören, gibt es eine Menge, die den dreifachen Tod gestorben sind, den beruflichen, den finanziellen und den medialen.

Zum anderen, wenn man solch eine Studie mit Sportlern durchführen will, wird man auf eine Menge Probleme stoßen. Kurz gesagt, um die ehemaligen Sportler kümmert sich niemand.

Das entspricht dem was der italienische Richter Raffaele Guariniello bei ehemaligen Fußballern durchgeführt hat… (2)
Ein gutes Beispiel. Handelt es sich hier um eine Serie, die nichts besagt oder um etwas, das weiterführt? Ich wiederhole – das hat etwas mit meiner universitären beruflichen Einstellung zu tun – wir müssen zuerst bescheid wissen.
( … )
Die Kontrollen sind unwirksam. (…) Man kann nur bitter werden wenn man die Anzahl der Leute betrachtet, die mit Produkten erwischt wurden und die extrem geringe Anzahl der positiven Kontrollen. Woher weiß man heute von der Häufigkeit des Dopings? Weil der Zoll die Typen erwischt. Währenddessen weisen die Urinproben nichts auf. (…)


(1) >>> mehr Infos zu Jérome Chiotti

(2) Nach Untersuchungen von Raffaele Guariniello starben viele ehemalige Fussballer an amytrophischer Lateralsklerose (ALS), die Rate der an diesem Gehrig-Syndrom erkrankten Fußballer sei achtmal so hoch wie unter dem Rest der Bevölkerung.