Doping: Kindermann, Dr. Wilfied

Deutsche Ärzte und Doping

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Wilfried Kindermann

Prof. Dr. Wilfried Kindermann war 1962 Leichtathletik-Europameister mit der 4×400-Meter Staffel. 1979 wurde er zum Leiter des Instituts für Sport- und Präventivmedizin der Universität des Saarlandes ernannt. 2009 ging er in Ruhestand.

Hintergrundinfos:
>>> Fußball und Doping – BRD

10 Jahre lang fungierte er als Mannschaftsarzt des DFB, war „Chief Medical Officer“ beim FIFA Confederations Cup 2005, bei der FIFA-Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Von 1989 und 1996 betreute er die deutschen Leichtathleten als leitender Verbandsarzt des DLV, von 2000 bis 2008 fungierte er als Chef-Olympiaarzt. Bis Mai 2006 hatte er den Vorsitz des Wissenschaftlich-Medizinischen Beirats des Deutschen Sportbundes (DSB) inne. Weitere Funktionen: Mitglied der Medizinischen Kommission des Europäischen Fußballverbandes (UEFA), Präsidiumsbeauftragter für Medizin im DLV und Stellvertretender Vorsitzender der Kommission für Sportmedizin des DFB, Vorsitzender der medizinischen Expertenkommission des DOSB, Mitglied der Anti-Doping-Kommission des Deutschen Fußballbundes (DFB) sowie des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) und des Kuratoriums der Nationalen Antidoping-Agentur (NADA). (Vita)

Der heute hoch angesehene Sportmediziner Wilfried Kindermann, dessen ehrenamtlich Funktionen, auch als Anti-Doping-Kämpfer, kaum überschaubar sind, muss sich immer wieder gegen Vorwürfe wehren, die ihn mit Dopingforschung und -anwendung bzw. -toleranz in Verbindung bringen. Er selbst weist solches weit von sich. So erklärte er 2007: „Ich habe nie Pro-Doping-Forschung betrieben, wir wussten in den siebziger Jahren aber auch nicht das, was wir heute über Anabolika und die Nebenwirkungen wissen.“ Die Studien von Keul habe er lediglich als Assistent mit ausgewertet, und „seitdem werde ich in Sippenhaft mit ihm“ genommen.“ (der Spiegel, 5.7.2007)

Prof. Dr. Wilfried Kindermann hat seine Ausbildung zum Sportmediziner in Freiburg erhalten. Damals lernte er, „dass der Radsport total dopingverseucht ist“.

„Ich hatte in Freiburg zu Beginn meiner sportmedizinischen Laufbahn ein Schlüsselerlebnis, da hat mir ein Radsporttrainer berichtet, was so alles im Radsport üblich sei, er wollte mir wohl imponieren und mir zeigen, dass ich diesbezüglich ein Waisenknabe bin. Im Nachhinein bin ich ihm dankbar, denn seitdem ist der Radsport für mich tabu gewesen. Ich hab nie irgendwelche Betreuungsaufgaben im Radsport gemacht , ich habe meinen Ärzten hier in Saarbrücken am Institut der Universität klar gemacht, dass ich es nicht wünsche, dass meine Mitarbeiter Radsportler betreuen, abgesehen von den jährlichen Gesundheitsuntersuchungen im Rahmen der Landeskader.“
(Doping und die Freiburger Sportmedizin, Juni 2008, SWR BB)

Kindermann war 1976 Mitautor einer Untersuchung von Keul und Deus, die an 10 Normalpersonen und 15 Gewichthebern den „Einfluss von Nandrolondecanoat vor und nach zweimonatiger Behandlung sowie 4 Wochen danach“ erforschte. „Ferner wurden die Untersuchungsbefunde von 57 Sportlern, die anabole Hormone eingenommen hatten, auf Schädigungen bzw. Funktionsstörungen hin überprüft.“ Die Autoren stellten zwar bei 34 Personen Schädigungen fest, da diese aber nach Absetzen des anabolen Steroids zurückgehen würden, wurde eine Unbedenklichkeitserklärung ausgestellt: „Diese Befunde (…) lassen den anabolen Steroiden keine allgemeinschädigende Wirkung zuordnen (…).“ Daher gebe es aus medizinischen Gründen keine gesicherten Einwände gegen die Einnahme bei Männern, bei Frauen und Kindern sähe dies aber anders aus. „Ein Verbot von anabolen Hormonen mit dem Hinweis auf die Schädigung, die nicht bewiesen ist, lässt die ärztliche Beratung bzw. den Arzt selbst fragwürdig erscheinen und ist daher nicht empfehlenswert.“ ((1), S. 210f)

Irritierend hierzu liest sich die Aussage von Kindermann in der FAZ vom 26.10.1976: „Im Osten kommen Frauen auch mit tiefen Stimmen durch den Alltag. Dort sind sie sozial abgesichert,“ ((4), S. 43)

Die nicht bewiesene Schädigung durch anabole Steroide bekräftigte Kindermann 1977 nochmals mit folgender Aussage: „In der gesamten Literatur habe es gerade einmal 20 Fälle von Lebertumoren nach Anabolikaeinnahme gegeben.“ (NZZ, 12.10.2006)

Kindermann und Keul forschten in den 70er Jahren auch über Betablocker, Herzmedikamente. Mittel, die im Gegensatz zu den anabolen Steroiden, die für alle deutsche Sportler und international gesehen für alle Leichtathleten seit Anfang der 1970er Jahre nach geltenden Dopingregeln nicht anwenden durften, erlaubt waren. An Bobfahrern sollte erkannt werden, ob Betablocker Angstgefühle vertreiben könnten. Wolfgang Zimmerer, erfolgreicher Bobfahrer in den 70er Jahren über Einsatzmöglichkeiten: „Es gibt eben Leute, Aktive, die wo eben der Nervenbelastung nicht standgehalten haben, ja. Und für denen, glaub ich, war so ein Mittel unheimlich stark, also unheimlich gut. Die haben ihren Körper besser im Griff gehabt, ja.“ (rbb, 14.9.2006)

«Mit der Problematik des Dopings leben wir, seit es Spitzensport gibt. Sie ist aber nicht mehr vergleichbar mit der Hochphase in den 70er und 80er Jahren. Die angestrebte Harmonisierung der Kontrollen ist zwar noch lange nicht erreicht. Aber sie wird fortschreiten», sagte Kindermann. Der deutsche Sport könne davon «nur profitieren».
(dpa, 4.9.2010)

In der Medical Tribune vom 20.5.1977 wird zu Privatdozent Dr. Kindermann festgehalten, dass er die Verabreichung anaboler Steroide aus sportethischen Gründen ablehne. Die Richtlinie des deutschen Sportärztebundes, wonach die Verabreichung von Pharmaka an Gesunde nicht statthaft sei, besitze für ihn jedoch keine Gültigkeit, „solange Millionen von Frauen die Antibabypille einnehmen und auch verschrieben bekommen, ohne daß eine medizinische Indikation besteht.“ Im August 1977 antwortet Kindermann gemeinsam mit Josef Keul in der Medical Tribune auf Vorwürfe von Werner Franke, Sportärzte würden die gefährlichen Nebenwirkungen von Anabolika leugnen. In dieser Antwort werfen sie Franke falsche Angaben vor. Beide Ärzte sehen keine Beweise für einige von Franke zitierte mögliche Schäden (>>> Werner Franke, Anabolika im Sport und Antwort Keul/Kindermann).

Nach dem Sportinformationsdienst sid vom 10.8.1988 hat sich Kindermann für die Freigabe der Anabolika im Hochleistungssport dann ausgesprochen, wenn es nicht gelänge ein gutes Kontrollnetz einzuführen.

Kindermann: „Wenn die scharfen Kontrollen nicht kommen, müssen Anabolika von der Dopingliste. Wenn Anabolika freigegeben werden, hätten wir Ärzte zumindest die Chance, mit den Athleten zu besprechen, welche Dosierungen zu verantworten sind. In dieser Hinsicht hatte sich vor Monatsfrist auch der Freiburger Sportmediziner Professor Dr. Armin Klümper erneut geäußert. Kindermann erwartet bei einer regelgerechten, niedrigen Dosierung auch bei jahrelangem Anabolika-Konsum keine qesundheitlichen Schäden, wenn bei den Hochleistungssportlern regelmäßig Kontrolluntersuchungen durchgeführt wurden. Medizinisch lasse sich die kontrollierte Einnahme von Anabolika vertreten, sportlich empfindet Kindermann diese Lösung als Katastrophe. Der Sport verliert hierdurch endgültig seine Vorbildfunktion“, zitiert SportBILD den früheren Staffel-Europameister. Die verheerenden Nebenwirkungen treten vor allem beim unsachgemäßen Umgang mit den muskelbildenden Hormonen auf.

Kindermann und der Fußball:
sid, 19.12.1990:
Der Medizinmann räumt ein, es könne vorkommen, daß auch ein Fußball-Spieler für ein Spiel mal Aufputschmittel nimmt: „Aber von einem Profi-Fußballer werden so oft Höchstleistungen gefordert, daß der Körper dies Über einen längeren Zeitraum nicht mitmacht. Dennoch ist es gut, wenn im Fußball Doping-Kontrollen durchgeführt werden, denn sonst wäre dieser Sport immer Verdächtigungen ausgesetzt.“ Das exzessive Schlucken von Anabolika, eine Geißel der Leichtathletik, spielt im Fußball Überhaupt keine Rolle. Kindermann: „Theoretisch bedeutet ein Mehr an Muskeln auch ein Mehr an Kraft und damit eventuell ein Mehr an Schnelligkeit. Aber im Fußball sind gleichzeitig Schnelligkeit, Ausdauer, Flexibilität und Koordination gefordert. Diese Komponenten lassen sich nicht alle gleichzeitig künstlich verbessern.“
„Ich habe gerüchteweise davon gehört, daß mit unterklassigen Fußballern Anabolika-Versuche gemacht worden sind. Aber diese Fußballer sind schlechter geworden anstatt besser, weil der Muskelzuwachs allein dem Fußballer nichts bringt, und dann wurden die Experimente eingestellt.“

der Spiegel, 11.12.2006:
„Es gibt sicherlich dopingträchtigere Sportarten. Aber mit der richtigen Substanz können natürlich auch Fußballer ihre Leistung steigern. Wenn man etwa Anabolika schluckt, um Muskeln aufzubauen, kann das auf Kosten der Beweglichkeit gehen. Aber es gibt ein Präparat, das viel Sinn machen würde – und das ist Epo. Es ist das Turbomittel zur Steigerung der Ausdauer. … da weiß der Teamarzt möglicherweise gar nichts davon. Einzelne Spieler machen das, außerhalb des Trainingsgeländes, niemals die ganze Mannschaft. … Zunehmende Kommerzialisierung, die steigende Anzahl von Wettkämpfen und wachsender öffentlicher Druck führen zu Doping. Wenn ein Spieler der Belastung nicht mehr gewachsen ist, dann macht er sich natürlich Gedanken, wie er seine Defizite ausgleichen kann.“ … „Überall wo Spitzensport betrieben wird, versuchen manche zu manipulieren. Der Mensch ist so. Ich betrachte daher auch die in Mode gekommenen Nahrungsergänzungsmittel wie Kreatin skeptisch. Das ganze Gerede darüber fördert für mich nur die Dopingmentalität.“

Auch an den durch das BMI und das BiSP geförderten Testosteron-Studien Ende der 80er Jahre war Prof. Kindermann zusammen mit J. Keul und Heinz Liesen beteiligt. (>>> Testosteronforschung in der BRD 1985 bis 1990)

Wilfried Kindermann testete noch später neue Medikamente an Athleten. Vehement verteidigte er 1993 auf dem 33. Sportärztekongress in Paderborn die Notwendigkeit der Substitution im Hochleistungssport.

„Substitution ist erlaubt und kann im Hochleistungssport auch bei ausgewogener Ernährung notwendig sein. Substitution darf aber nicht zum Schlupfwinkel pharmakologischer Manipulationen werden.“

Vor diesem Hintergrund forderte er, dass die Dopingliste des IOC präzisiert werde, einzelne Mittel sollten genau angegeben werden, mit dem Begriff ‚verwandte Verbindungen‘ zeigte er sich nicht zufrieden. Das sei im Sinne der Sportmediziner, die nicht alle Dopingspezialisten seien. Er betonte

Laien können oft nicht beurteilen, ob es sich bei pharmakologischen Maßnahmen um Therapie, Substitution oder Doping handelt.“ (FAZ, 18.10.1993)

1998 wurde bekannt, dass Stephane Franke und Damian Kallabis zur Leichtathletik-EM, vom Freiburger Arzt Heinz Birnesser und von Dr. Uwe Wegner aus Hannover auf Bitte Infusionen mit dem Blutplasma-Expander HES bekommen hatten, die Rezepte stammten von Hausärzten. HES stand damals nicht auf der Liste der verbotenen Mittel, aber es war bekannt, dass es bei EPO-Doping das Blut verdünnte. Franke erzählte daraufhin, er habe das Mittel bereits 1995 von Wilfried Kindermann erhalten. (Rhein-Zeitung, 4.12.1998).

1998 führten die HES-Gaben zu schweren Vorwürfen gegen die Sportler und deren Ärzte, die in Rechtfertigungsnot kamen. Der EPO-Verdacht wurde offen diskutiert. HES kam bald auf die Verbotsliste. 1995 war die Zeit dafür noch nicht reif. EPO verbreitete sich gerade rasant, da man nun die schweren Nebenwirkungen – es waren bis 30 Todesfälle zu beklagen – in den Griff bekam. Man wusste besser zu dosieren und das Blut zu verdünnen. Kindermann erklärte, er habe HES auf Frankes ausdrücklichen Wunsch infundiert.

Dr. Kindermann ist kein Doping-Arzt, ihm ist nichts nachzuweisen. Aber er war, so sieht es aus, offen für neue Mittel, die leistungssteigernd sein könnten, und immer bereit, Grenzen auszureizen.

„“Mir ist es ein Dorn im Auge“, sagt Kindermann, „daß man heutzutage bei jedem bißchen gleich infundiert: Elektrolyte, Vitamine, Glukoselösungen.“ Gleichwohl würde auch er aus psychologischen Gründen, um einen labilen Athleten am Wettkampftag zu stabilisieren, mal eine Vitaminspritze setzen. „Solange es nicht verboten ist und nicht schadet“, so laute die oberste Maßgabe.“ (FAZ, 9.9.2000)

Ende der 90er Jahre und später forschte Kindermann zu anabolen Steroiden und wies deren Langzeitschäden nach. U. A. stellte er fest, dass anabole Steroide für den plötzlichen Herztod verantwortlich sein können. (Link)

Seit dem 22. Mai 2007 leitet Prof. Dr. Wilfried Kindermann ein ständiges medizinisches Expertengremium, welches dem DOSB und seinen Mitgliedsorganisationen in allen Doping relevanten Fragen beraten soll.

2008 / 2008 arbeitete er als Berater an der Stellungnahme zu der Problematik ‚Doping und Ärzte‘ der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer mit. (Link, 2006)

Erklärungen 2011

Im November 2011 reagierten Hochschullehrer der deutschen Sportmedizin und des Wissenschaftsrates der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP) mit einer Erklärung auf Vorträge während des Internationalen Symposiums in Freiburg „Sportmedizin und Doping in Europa“ und auf die Präsentationen der Zwischenergebnisse des Forschungsprojektes „Doping in Deutschland von 1950 bis heute… “. Darin verurteilten sie Dopingforschung und Dopinganwendung von Ärzten während vergangener Jahrzehnte bis heute. Die Erklärung soll erst mit einigem Ringen im Hintergrund zustande gekommen sein, gehören doch zu den Unterzeichnern auch Ärzte, die selbst im Fokus standen und stehen. Nicht zu den Unterzeichnern gehörten Prof. Dr. Liesen, der bei seiner alten These der Substitutionsnotwendigkeit mit Testosteron bleibt und Prof. Kindermann, der eine eigene Erklärung ankündigte, die er in der Dezemberausgabe der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin vorlegte.

>>> DGSP: Erklärung 2011: Doping im Leistungssport in Westdeutschland

>>> Kindermann: Die Verantwortung der Sportmedizin im Leistungssport

Siehe hierzu auch

>>> Testosteronforschung 1985 – 1990


„…
Warum hat man sich nicht bereits früher mit verschiedenen Studien kritisch auseinander gesetzt? Der wissenschaftlichen Öffentlichkeit sind die Anabolikastudien, die jetzt verurteilt werden, seit langem zugänglich und den meisten auch bekannt.

Eine weitere Frage bleibt offen. Warum diese plötzliche Eile, obwohl durchaus noch Diskussionsbedarf bestand? Die Stellungnahme der Hochschullehrer bezieht sich u.a. auf die vom DOSB und Bundesinstitut für Sportwissenschaft in Auftrag gegebene Studie „Doping in Deutschland von 1950 bis heute aus historisch-soziologischer Sicht im Kontext ethischer Legitimation“. … Eine Analyse durch den wissenschaftlichen Projektbeirat war zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfolgt. Aus meiner Sicht wäre eine gründliche Aufarbeitung und nachfolgende Stellungnahme nach Vorlage der schriftlichen Fassung dienlicher gewesen, als übereilt auf Berichte und Kommentare in den Medien zu reagieren. Bei allen kritischen Einlassungen darf die wissenschaftliche Datenlage (nicht die veröffentlichte Meinung) zum jeweiligen Zeitpunkt nicht unberücksichtigt bleiben. …

Die 1970er Jahre waren geprägt durch eine wissenschaftliche Diskussion über Wirkungen und Nebenwirkungen der anabolen Steroide bei gesunden Sportlern. Die Wirkungen wurden von einigen Wissenschaftlern infrage gestellt. Auf einem Symposium der Max- Planck-Gesellschaft 1977 bestritten führende Endokrinologen und Grundlagenforscher einen leistungssteigernden Effekt und sprachen von einem Scheinproblem. Sie schlugen breit angelegte Untersuchungen vor, bei denen Sportler mit und ohne Anabolika über längere Zeit medizinisch beobachtet werden sollten. Bereits in den 1960er Jahren waren Nebenwirkungen der Anabolika bekannt, aber diese Studien waren Tierexperimente oder beinhalteten Befunde, die an Patienten erhoben worden waren. Ab Mitte der 1960er Jahre wurde eine Reihe von Studien über Wirkungen und Nebenwirkungen von Anabolika bei Gesunden, meist Sportlern,

in renommierten internationalen Zeitschriften … publiziert. … Die Befunde hinsichtlich einer Zunahme der Muskelkraft waren unterschiedlich. Die Nebenwirkungen (Beschwerden, Blutdruck, Leberwerte) wurden von keine Nebenwirkungen bis hin zum Verschwinden nach Absetzen des Anabolikums beschrieben.

In den 1980er Jahren kam ein weiteres Problem hinzu. Die These von einer angeblich notwendigen Substitution mit Testosteron insbesondere in Ausdauersportarten wurde verbreitet. Es wurde spekuliert, damit seien kürzere Regenerationszeiten und höhere Trainingsbelastungen möglich. Das war Anlass zur Durchführung einer multizentrischen, vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft bewilligten Studie, die diese Behauptungen wissenschaftlich überprüfen sollte. Ich habe mich mit meinem Institut an diesem Projekt beteiligt, da ich überzeugt war, dazu beitragen zu können, die bisherigen Behauptungen zu widerlegen und damit das Hineindriften von Testosteron in die Ausdauersportarten zumindest zu bremsen.

Die gegenwärtigen Diskussionen haben gezeigt, dass Studien mit Dopingsubstanzen als problematisch und sogar a priori negativ betrachtet werden, insbesondere wenn sie von im Leistungssport tätigen Sportmedizinern durchgeführt werden. … Daher begrüße ich ausdrücklich die Erarbeitung einer „Conflict of Interest Policy“. Allerdings wird man auf sportmedizinisches Knowhow nicht verzichten können. Analoges gilt auch für die Mitgliedschaft von leistungssportlich erfahrenen Sportmedizinern in Gremien der Sportverbände und Anti-Doping-Organisationen. Wer Sitzungen solcher Gremien kennt, wird festgestellt haben, dass spezifisches Wissen um die Gegebenheiten der leistungssportlichen Praxis erforderlich ist, will man sachgerechte Entscheidungen herbeiführen.

Ich habe bereits 1987 in einem Editorial in dieser Zeitschrift von einem Bermuda-Dreieck des Hochleistungssports gesprochen: Kommerzialisierung – Wettkampfinflation – Doping [s.u.]. … Ich hatte damals geschrieben, dass die Gefahr, in diesem Dreieck als Medizinmann verschlissen zu werden, nicht unerheblich ist. Deshalb darf man sich, von wem auch immer, nicht vereinnahmen lassen. Bemerkungen über Einflüsse außerhalb der Medizin sind in diesem Zusammenhang nicht dienlich, auch wenn im nachfolgenden Satz eine Rechtfertigung vor diesem Hintergrund verneint wird. Auf eine Nachteilvermeidungsstrategie, wie von Historikern des oben genannten aktuellen Forschungsprojekts diskutiert, sollten sich ärztlich tätige Sportmediziner nicht berufen.

Die Stellungnahme der Hochschullehrer betont, dass eine qualifizierte medizinische Betreuung im Wettkampfsport zu den Aufgaben der universitären Sportmedizin gehört. Dem schließe ich mich uneingeschränkt an. Zweifellos hat dabei die Gesundheit oberste Priorität. Darüber hinaus können Athletinnen und Athleten erwarten, sportmedizinisch so betreut zu werden, dass sie im Wettkampf jene Leistung erreichen, zu der sie aufgrund ihres Talents und ihres Trainings befähigt sind. Dazu gehören beispielsweise leistungsphysiologische Maßnahmen wie Leistungsdiagnostik und Trainingssteuerung.

Wilfried Kindermann in SPORTMEDIZIN 38 (1987)

Wilfried Kindermann nimmt in seinem oben zitierten Kommentar zu der DGSP-Erklärung (Dt. Zeitschrift f. Sportmedizin Jahrgang 62, Nr. 12 (2011)) Bezug auf ein von ihm verfasstes Editorial in dieser Zeitschrift des Jahres 1987, Ausgabe 38. Darin spricht er von einem ‚Bermuda-Dreieck des Hochleistungssports:

Kommerzialisierung – Wettkampfinflation – Doping‘. Dieser Text in direkter Verbindung mit dem Tod von Birgit Dressel, in dessen Folge die deutsche Sportmedizin, insbesondere aber Armin Klümper in die Kritik kam.

„Die deutsche Sportmedizin, die sich vor 75 Jahren organisierte, steht in ihrem Jubiläumsjahr mehr denn je in der öffentlichen Kritik. Wie berechtigt sind diese Vorwürfe, die in erster Linie jenen Teilbereich betreffen, der sich mit dem Hochleistungssport befaßt?

Sportmedizin ist kein Hobby von leistungssportfanatischen Medizinern, sondern umfaßt – mit einer unsichtbaren Klammer verbunden – Leistungssport, Freizeitsport, Gesundheitssport und Rehabilitation, wobei die einzelnen Teilbereiche in einer Art Symbiose wechselseitig voneinander profitieren. Zusätzlich erschwert wird die Aufgabe der Sportmedizin durch Ihre Querschnittsfachstrukturierung.

Der klassischen Differenzierung in internistisch-leistungsphyslologische und orthopädische Sportmedizin könnten weitere Subspezialisierungen folgen wie beispielsweise Sportinternist, Sportkardiologe, Sportendokrinologe, Sporttraumatologe, Sportgynäkologe, Sportpädiater, Sportbiochemiker, Sportpharmakologe ….

Das Bermuda-Dreieck Kommerzialisierung – Wettkampfinflation – Doping, in dem sich der heutige Hochleistungssport befindet, stellt an den Sportmediziner besondere Anforderungen. Die Gefahr, in diesem Dreieck aufgerieben und zum „Medizinmann“ verschlissen zu werden, ist nicht unerheblich.

Um nicht mißverstanden zu werden: Der Leistungssportler, der jahrelang täglich mehrere Stunden trainiert und an dessen Leistung sich Millionen von Menschen begeistern, hat Anspruch auf eine umfassende sportmedizinische Betreuung. Alles andere wäre inhuman! In außergewöhnlichen Situationen sollten auch einmal außergewöhnliche Maßnahmen erlaubt sein, vorausgesetzt die Gesundheit wird gewahrt und die gültigen Dopingregeln werden beachtet. Andererseits muß ein Fach, das nach Etablierung innerhalb der medizinischen Fakultäten strebt, an sich selbst die in den klassischen medizinischen Fächern übliche Elle sowohl hinsichtlich ärztlicher Tätigkeit als auch hinsichtlich Lehre und Forschung anlegen. Das bedeutet im Klartext, daß wir auch unter den zweifellos vorhandenen Zwängen des Leistungsports beim Einsatz von Medikamenten darauf achten müssen, inwieweit wissenschaftliche Befunde vorliegen, die zumindest Hinweise auf die beabsichtigte Wirkung enthalten und Aufschluß über mögliche Nebenwirkungen geben. Da ich mich gelegentlich des Eindruckes nicht erwehren kann, daß das Wort ‚wissenschaftlich‘ inflationär gebraucht wird und damit eine Entwertung erfährt, ist zu fordern, daß auch in der Sportmedizin angewandte spezielle Behandlungsmethoden, von denen man sich Erfolg verspricht, via Publikation in anerkannten Zeitschriften einem kompetenten und kritischen Kollegenkreis zugänglich gemacht werden. Wenn ich es für notwendig halte, einen Gesunden prophylaktisch medikamentös zu behandeln, muß ich sicher sein, ihm nicht zu schaden. Auch wenn praktische Erfahrungen darauf hinweisen sollten, daß einiges, was bisher als Doping gilt, möglicherweise eher Substitution bedeuten könnte, sei vor voreiligen Schlußfolgerungen gewarnt. Bevor entsprechende Mechanismen und mögliche Interaktionen nicht restlos aufgeklärt sind, sollte man nicht in irgendwelchen Regelkreisen herumstochern.

Die Gefahr einer Polypragmasie ist in der Sportmedizin besonders groß. Jeder, der mit Leistungssport zu tun hat, wird bestätigen, daß gelegentlich eine solche nicht zu vermeiden ist. Wird derart behandelt, so kann das nur unter der Voraussetzung geschehen, daß die Therapie überschaubar bleibt. Andererseits muß auch deutlich darauf hingewiesen werden, daß der erfolgreiche Hochleistungssportler nicht zwangsläufig mit einer wandelnden Apotheke gleichzusetzen ist. Ein Medikament ist vergleichbar mit einer Prothese, und es ist wenig plausibel, daß mit zunehmender Prothesenzahl die sportliche Leistungsfähigkeit ansteigen soll. …

Vieles ist derzeit medizinisch-pharmakologisch am Athleten machbar; in jedem Einzelfall sollten wir Sportmediziner aber darüber nachdenken, ob es auch verantwortbar ist. Ähnlich problematisch ist die zu beobachtende Tendenz, daß der Sportmediziner quasi zum zweiten Trainer, zum Trainer im weißen Kittel avanciert und Erfolge der von ihm mitbetreuten Athleten zu mehr oder weniger groBen Teilen für sich reklamiert. Hier offenbart sich eine gefährliche Entwicklung, denn im Falle eines Mißerfolges wird gerechterweise auch der Arzt bei einer eventuellen Schuldzuweisung nicht ungeschoren davonkommen. Dieser selbst erzeugte Erfolgsdruck kann den Sportmediziner in Situationen manövrieren, in denen er nicht mehr in der Lage ist, ausschließlich nach ärztlichen Gesichtspunkten zu handeln. Wir sollten den Beitrag der Sportmedizin an der Leistung des Athleten als das sehen, was er wirklich ist, nämlich ein durchaus wichtiger Mosaikstein auf dem Weg zum Leistungsoptimum.

Ein Nachdenken über den künftigen Kurs der Sportmedizin im Bereich des Leistungs- und Hochleistungssports ist sicherlich angebracht. Andererseits sollte die Sportmedizin genügend Selbstbewußtsein besitzen, um sich nicht ständig zum Prügelknaben des Leistungssports machen zu lassen. Die Folgen des unheilvollen Dreieckes Kommerzialislerung – Wettkampfinflation – Doping sowie mangelhafte Regenerationszeiten, drohende Überlastungsschäden und Nichtbeachtung von Mikroverletzungen oder anderen Gesundheitsstörungen können nicht der Sportmedizin angelastet werden. Solange die Ursachen bestehen bleiben, wird auch der Arzt nur lindem, aber nicht heilen können.

Monika, Februar 2009, Ergänzungen