Radsport Doping-Geschichte
1950 – 1980, Teil 2

die gesellschaftliche Diskussion um Doping

In den 50er Jahren begann der Großeinsatz der anabolen Steroide im Sport. Er ging vom Westen aus und wurde von der DDR übernommen mit den bekannten Folgen des sich entwickelnden Staatsdopings.

Doping oder nicht Doping? Medikament oder nicht? Anabolika galten lange für viele nicht als Dopingmittel sondern als legitim eingesetztes Medikament. Bereits Ende der 60er Jahre soll es Sportlern, die auf viel Kraft angewiesen waren, kaum noch möglich gewesen sein, ohne Anabolika gute Leistungen zu erbringen. In der Leichtathletik, bei den Ruderern, Schwimmern, Kraftsportlern und Mannschaftsspielern wurden sie in großem Stil eingesetzt. Im Radsport waren die Anabolika angeblich anfangs nicht ganz so verbreitet, doch angewandt wurden sie durchaus, auch schon mit wissenschaftlicher Betreuung. Viele Athleten haben sich vor schweren Rennen Anabolika spritzen lassen. Es sollte ein Leistungsabfall nach einigen Tagen und die häufig auftretende größere Infektanfälligkeit verhindert werden.

Dopingfälle auf deutschem Boden Deutscher Bundestag, Kleine Anfrage 14.5.1979

In West-Deutschland entbrannte in den 70er Jahren eine intensive gesellschaftliche Diskussion um die weitere Freigabe und Nichtanerkennung der Anabolika als Dopingmittel. Sie wurden 1970 zwar von IAAF und DLV, 1974 vom IOC verboten, doch gab es innerhalb der Sportmedizin große Anstrengungen den kontrollierten Einsatz weiterhin zu betreiben. Für die UCI galt, dass seit 1967 Hormone und Anabolika nur mit ärtzlichem Attest zugelassen waren. Ob die DDR-Bahnradmannschaft der WM 1970 solche vorweisen konnten? Sie hatte z. B. „planmäßig“ Anabolika erhalten (Spitzer, S. 24).

Vor allem nach den Olympischen Spielen 1976, bei der die Athleten der DDR den westlichen keine Chancen ließen und diese Dominanz auf den systematischen Einsatz von Doping zurückgeführt wurde, befand sich der westdeutsche Sport in einem Dilemma. Einerseits war Doping und damit auch der Anabolika-Konsum, abzulehnen, andererseits konnte man nicht ohne sportliche Erfolge leben, das war schon wegen der nationalen Ehre wichtig. Die Sportfunktionäre sorgten daher alsbald gemeinsam mit den Politikern, Sportärzten, Funktionären und Sponsoren für eine sog. „Schweigegebot“. Ruhe kehrte in die öffentliche Diskussion ein, aber in der Praxis lebte das Problem lebendiger denn je weiter. (Hobermann, Singler/Treutlein)

Die Auseinandersetzung um die Anabolika ähnelt in Vielem derjenigen, die in der Folgezeit um andere Produkte geführt wurden: Sind die Anabolika rundweg abzulehnen oder sind sie nicht eher unabdingbar für die Regeneration, für die Verhinderung von Belastungsschäden, sind sie nicht bei strenger Anwendung unter ärztlicher Aufsicht geradezu non Nöten?:

„Nach dem endgültigen Verbot der Anabolika nahm diese Einstellung im westdeutschen Sport anscheinend solche Ausmaße an, dass häufig die größte Anstrengung beim Doping – auch zur Beruhigung des eigenen Gewissens? – in der Suche nach einem passenden Krankheitsbild bestand.“ (Singler/ Treutlein, Teil 1) (Siehe hierzu auch doping-archiv.de: Historie westdeutscher Sportärzte)

Anabolika

Anabolika sind in den Kraftsportarten alltäglich aber auch in den Ausdauersportarten gehören sie bis heute zu den gebräuchlichen Mitteln. Sie sind leicht zu beschaffen und kostengünstig, Testosteron gilt gar als „Einstiegsdroge“ (Kern). Maarten Docrot, aktiv in den 80er Jahren, gibt 1999 zu: „Testosteron war Grundnahrungsmitel – als Injektion oder Pille. Schon zum Frühstück gab’s 10 Gramm Testo-Pulver.“ (Berliner Kurier, 2. 1. 2000)

Eine positive Kontrolle zu vermeiden scheint einfach zu sein. Werner Franke hierzu in einem Interview mit der Schweizer Sonntagszeitung:

„Ich habe den verstorbenen Kölner Dopingfahnder Donike einmal über das oral einzunehmende Testosteron mit dem Namen Andriol um Auskunft gebeten: Wie sollen das Radsportler während der Tour nehmen, ohne entdeckt zu werden? Er sagte, dass sich die Fahrer in der Nacht wecken lassen und die Pillen nehmen. Sie wissen, dass am nächsten Tag, wenn sie viel Flüssigkeit zu sich nehmen, nach der Etappe ihr Verhältnis Testosteron zu Epitestosteron im legalen Rahmen liegt. Die Fahrer wissen auch, dass die Kontrollen am Ende der Etappe gemacht werden.“

Auch rechtzeitig vor Wettkämpfen abgesetzt, sind die Anaboloka nicht mehr nachweisbar, erst mittels Trainingskontrollen ist es möglich den Einsatz zurückzudrängen. Allerdings wird das Aufspüren durch die gleichzeitige Einnahme des Schwangerschaftshormons hCG kaum noch möglich. Ein Verfechter des Anabolikadopings zu Beginn der 60er Jahre, Dr. Josef Assenmacher, behauptete 1983: “Ohne Hilfe von Anabolika und Hormonen ist das heutige Radsport-Programm nicht zu meistern.“ (Singler/Treutlein, Teil 2) Zudem wurden sie mit dem Einzug der Corticosteroide unverzichtbar um deren Nebenwirkungen ausgleichen zu können (s.u.).

Nandrolon ist heute wohl das bekannteste Anabolikum, seit ca. 30 Jahren ist es unter Sportlern ein Begriff (Nandrolondecanoat, sie nennen es „Deca“), vor allem weil es stark anabol und weniger androgen wirkt und die regenerationsfördernde Wirkung hoch ist. Der erste Athlet, der damit überführt wurde, war 1979 Joop Zoetemelk, er bekam es von seinem Hausarzt auf Rezept.

Dr. Gustav Raken, viele Jahre betreuender Arzt des Radsportverbandes Nordrhein-Westfalen erzählte über die 70er Jahre:

„Sehr intensiv wurden in dieser Zeit die Anabolika benutzt. Es gab dann drei bis vier Depotspritzen Decadurabolin in der Vorbereitung, zum Beispiel von Februar bis Mai. Und so standen damals vor der Praxis in Serie acht bis zehn Radsportler, die mal so eben nebenher auf der Trainingstour sich montags diese Spritze abholten. Die Ampullen wurden in Kisten zugesandt aus der sportmedizinischen Region Freiburg.“ (Ralf Meutgens, REPORT 6/99)

Im August 2013 gestand Raken, selbst Dopingmittel in Verbindung mit Klümper verabreicht zu haben (BR, 8.8.2013).

Und Dr. Liesen erklärte 1977 in der Expertenanhörung vor dem deutschen Sportausschuss:

„Wir wissen z. B. aus dem Radsport, aus der wissenschaftlichen Betreuung von Profiradsportlern und auch von Amateuren, daß viele Athleten z. B. bei Etappenrennen nach mehreren Tagen einen Einbruch der Leistungsfähigkeit und auch einen Einbruch der körperlichen Gesundheit dergestalt haben; daß sie gegenüber Infektionen anfällig werden oder auch manifest erkranken. Die Empirie der Athleten zeigt uns, daß sie sich aus dieser Erfahrung heraus vorher ein anabol wirksames Hormon spritzen lassen, z. B. Stestoveron, und dann diese Erkrankungen, diese Abfälle in der Leistungsfähigkeit nicht auftreten.“ (Protokoll, 28.9.1977, S. 6/63)

Sehr häufig kommen im Sport anabole Wirkstoffe aus der Tiermedizin zur Anwendung. Sie sind oft günstiger im Preis und leichter zu beschaffen aber da bei ihrer Herstellung nicht die strengen Sorgfaltsauflagen bestehen, wie bei humanen Medikamenten, birgt ihre Anwendung zusätzliche Risiken.

Beta-2-Mimetika

In die Gruppe der anabolen Wirkstoffe gehören auch die Beta-2-Mimetika/ Beta-2-Agonisten, Asthmamittel, besser bekannt unter ihren Produktnamen Salbutamol, Clenbuterol und Terbutalin, wobei Clenbuterol das am häufigsten verwandte Mittel ist. In Tierstudien hatte sich gezeigt, dass die Muskelmasse zwar erhöht aber gleichzeitig das Körperfett reduziert wird, ohne dass vermännlichende Reaktionen auftreten. Damit avancierten diese Mittel bald zum „heißesten Medikament“ innerhalb der Dopingszene. Im Ausdauersport ist es bevorzugt ein Mittel für die wettkampffreie Zeit, ohne Trainingskontrollen werden sie aufgrund dessen selten nachgewiesen. Seit 1993 stehen die Asthmamittel auf der Verbotsliste, seit 1992 ist der Nachweis von Clenbuterol möglich.

Im Jahre 1997 wurde Djamolidine Abdoujaparov gleich 4mal positiv auf Clenbuterol und Bromantan (letzteres ist ein Verschleierungsmittel) getestet, wobei er dreimal nur eine Verwarnung erhielt, erst beim 4. Male nach der 6. Etappe der Tour de France wurde er aus dem Rennen genommen: „Ich weiß von nichts. Ich verstehe nichts, nichts, nichts.

Nach Voet tauchte Clenbuterol in der Festina-Mannschaft 1997 auf, 1998 überprüfte er dessen Wirkung erst an sich selbst bervor er, überzeugt, seine Profis mit einer Clenbuterol-Kur beglückte.

Ausführlichere Informationen zu den anabolen Wirkstoffen / Anabolika sind hier zu finden

Glukokortikoide / Corticosteroide

Ein weiteres Mittel, dass in den 60 Jahren den Dopingmarkt eroberte, und dessen ungehemmten Gebrauch man bald an dem Äußeren der Athleten feststellen konnte, waren die Glukokortikoide / Corticosteroide (Cortison ist ein Vertreter). Im Ausdauersport zählen sie zu den am meisten verwendeten Substanzen und wurden 1975 vom IOC auf die Verbotsliste gesetzt, die UCI folgte 1978. Trotzdem gehörten sie im Radsport auch in den 80ern und 90ern zur festen Ausrüstung fast eines jeden Fahrers. Dadurch fühlte sich die UCI berufen 1994 von einer belgischen Forschergruppe eine Untersuchung durchführen zu lassen. In Zusammenarbeit mit Pharmakologen, Trainern und Sportärzten unterzogen sich in Brüssel 16 Radprofis einem mehrtägigen Leistungstest mit und ohne Corticoid. Als Ergebnis wurde festgehalten, dass der Vorteil dieser Wirkstoffgruppe vor allem in einem verminderten subjektiven Belastungsempfinden liege und dass die Regeneration positiv beeinflusst werden könnte.

Bei Dauermedikation können Vollmondgesicht, Stammfettsucht, Stiernacken, Gewichtszunahme auftreten, alles Symptome, die aus der Anfangszeit des Cortisonmissbrauchs bekannt sind. Auch Osteopenie (Knochenschwund) ist dokumentiert.

„Als junger unerfahrener Arzt hatte ich mich bemüht, die Rückenschmerzen eines Eliteradrennfahrers abzuklären. (..) Nach meiner Ankündigung, dass dazu eine sogenannte Beckenstanze notwendig sei, um eine Probe des Knochenmarks zu gewinnen, ereilten mich einige Anrufe von Kollegen, die mich davon überzeugen wollten, dass die Indikation für diesen Eingriff nicht gegeben sei. Sie haben mich „zu Recht“ überzeugt, da die Ursache für die Osteopenie bei den erfahrenen Kollegen bekannt war.“ (Dr. Stockhausen in R. Meutgens, 2007, S. 161)

die Zeit, 8.12.1978:
Frage: Wildor Hollmann vom Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin in Köln berichtete dem Deutschen Sportärzte Kongreß, noch niemals seien ihm so viele Fälle der Glukocorticoide Einnahme bekannt geworden wie in diesem Sommer. Was bewirkt dieses Mittel in welchen Sportarten und wie läßt sich der Gebrauch nachweisen?


Donike: In Frankreich wird in der Presse offen diskutiert, daß der „Einbruch“ von Bernard Thevenet bei der diesjährigen Tour de France auf die übermäßige Einnahme von Cortico Steroiden zurückzuführen sei. Diese Mittel werden dazu verwendet, eine psychische Stimulation hervorzurufen. Sie soll die Stimulation durch Amphetamine, die wegen der Kontrollen nicht mehr möglich ist, ersetzen. Größer als die stimulierenden Wirkungen sind jedoch die Nebenwirkungen : Der körpereigene Immunschutz wird, wie den Medizinern seit langem bekannt ist, durch die Einnahme von hohen Corticoid Dosen verringert. Im Radsport gab es noch nie so viele langandauernde Infekte, nicht therapierbar über Monate hinweg, wie zur Zeit. Das abrupte Ende der Karriere von Eddie Merckx wird ebenfalls auf einen übermäßigen Gebrauch von CorticoSteroiden zurückgeführt.

Prof. Michel Rieu, 1980:
Cortison ist ein wenig so, als würden sie ihr Feuer mit ihrem eigenen Holzhaus anzünden.

(de Mondenard, Dictionnaire, S. 325)

2006 wurde eine französische Studie bekannt, wonach der Dauerkonsum von Corticoiden eine Nebenniereninsuffizienz auslösen kann, da die endogene Produktion von Cortisol gestoppt wird. Der Tod unter Stressbedingungen z. B. bei Infektionen, kann danach nicht ausgeschlossen werden. Nach Professor Yves Le Bouc von der französischen Nationalen Antidoping-Agentur kann dies auch den plötzlichen Herztod hervorrufen. Die Studie basiert auf der Untersuchung von 659 Radsportlern zwischen 2001 und 2002, von denen 85 Corticosteroide verschrieben bekommen hatten, 34 von ihnen zeigten Anzeichen einer Nebenniereninsuffizienz. (le Monde, 10.2.2007).

Corticosteroide waren seit den 90iger Jahren von der UCI unter bestimmten Bedingungen verboten. Nach dem gegenwärtigen WADA-Code sind sie im Wettkampf untersagt, wenn sie oral, intravenös, intramuskulär oder rektal verabreicht werden außer es liegt hierfür eine Ausnahmegenehmigung vor.

Erst 1999/2000 gelang es die synthetischen Cortikoide direkt im Urin nachzuweisen, die ’natürlichen‘ scheinen trotz Ankündigung noch unentdeckt zu bleiben. Zuvor wurden sie nach Meinung des Leiters des Analyse-Lobors in Lausanne, Martial Saugy, von den Athleten eingenommen wie Lebensmittel.

Möglich ist das durch eine direkte Kortisonzufuhr aber auch mittels Stimulation des körpereigenen Kortisons durch ACTH (ein natürliches Peptidhormon). In den 70er Jahren vertrieb z. B. ein ehemaliger Fahrer, der zum Pfleger avancierte, eine Mischung aus Cortison, ACTH und Testosteron, die „Leckerei des Dr. X“, wie sie im Peloton genannt wurde. (de Mondenard)

Meinungen, Beispiele

Bernard Thévenet gestand:

„Ich habe mich 3 Jahre lang mit Kortison gedopt, und es sind viele in meiner Lage“, er „kann auf kein Rad mehr steigen.“ Auch von Eddy Merckx wurde bekannt, dass er oft Cortison benutzte. (de Mondenard)

Jaques Anquetil 196x, Freddy Maertens 1986, Ludo Dirckxens 1999 und Luca Bramati 2000 wurden des Cotisons überführt. Bei der Tour de France 1997 verwenden in der ersten 50% der Fahrer Cortikoide, in der zweiten Woche sind es fast 80 %, alle mit ärztlichem Attest. (Singler /Treutlein, Teil 2). Bei einer Untersuchung 1997 unter leistungsstarken Radsportlern wurden bei 80 % Kortisondosen gefunden, die auf Missbrauch hinwiesen. Bei der Tour 1999 war die Zahl der Fahrer ähnlich. Beim Giro d’Italia 2000 entpuppten sich 80 Fahrer kortison-positiv, 20 von ihnen hatten keine ärztliche Indikation – dabei bleibt die Frage (für mich) offen: wurden diese 20 sanktioniert? (WEBDO, 1.11.2000)

Michel Boyon, Präsident des halbstaatlichen französischen Anti-Dopingrat CPLD sagte noch 2002 : „Wir sind beim CPLD der Überzeugung, dass es für 95% aller Kortikoid-Verschreibungen eine Medikamenten-Alternative gibt.“ (l’Equipe online)

Bei der Tour de France 2002 gehörten die Cortikoide ebenfalls zu den am häufigsten festgestellten Arzneien, immer mit ärztlichem Attest.

Dopingnormalität im Peloton
Will van Helvoirt, Niederländische Radfahrer, beendet mit 24 Jahren seine Profilaufbahn: „Ich mache lieber Schluß, als mich den Gefahren des Dopings auszusetzen, die ich in der kurzen Zeit erlebt habe. Was viele meiner Kollegen machen, das möchte ich meinem Körper ersparen. Viele Fahrer begeben sich in die Hände von sogenannten Pflegern, die diesen Namen wirklich nicht verdient haben, eher im Gegenteil. Der Radsport hat mir Freude gemacht aber nicht zu diesem Preis …“. (FAZ, 15.12.1976)

SZ 25.7.1978:
„Tour de France: So sollte man heute nicht mehr fragen: „Wer ist gedopt?“, sondern höchstens „Wer ist nicht gedopt?“ – und man würde wahrscheinlich auch dann noch ausgelacht. Der Eklat um den betrügerischen Spitzenreiter Michel Pollentier, der mit einem alten Trick der Abgabe fremden Urins an einem jungen, unverdorbenen und korrekten Arzt scheiterte, zeigte offensichtlich nur die Spitze eines Eisbergs. Man muß annehmen, daß sie sich alle irgendwie dopen, dopen, quer durch die Apotheke vom bekannten Mittel bis hin zu den neuesten, durch die herkömmlichen Dopingkontrollen noch nicht nachweisbaren Mixturen, daß ihnen Ärzte, Betreuer und Manager dabei helfen und daß auch die Kontrolleure mit ihrer Sorglosigkeit (vielleicht sogar absichtlich) größte Mitschuld tragen. Sonst müßten einfach mehr Dopingfälle in den anderen Rennen dieses Jahres bekannt geworden sein.“

Wie allgegenwärtig Doping im Peloton in den 60er und in den 70er Jahren war, zeigen auch noch folgende Zitate:

1960 entdeckt der Tour-Arzt Pierre Dumas (in späteren Jahren Monsieur Anti-Doping genannt), dass sich der italienische Meister Gastone Nencini männliche Hormone injiziert. Auf einem schnell einberufenen Treffen der Tourverantwortlichen mit den drei bei der Tour anwesenden Ärzten werden ethische Aspekte der Sportmedizin diskutiert. Der Tour-Arzt Boncour:

„Was wird aus Nencini in fünf, zehn Jahren geworden sein? Einige der verwendeten Medikamente können ihm extrem schaden.“ Ein anderer Arzt klagt Nencinis Arzt mit folgenden Worten an: „Die von Ihnen verwendeten Drogen sind schädlich und gefährlich. Im Moment hält dies der Fahrer aus, aber sind Sie sicher, dass er nicht in drei oder vier Jahren Opfer der schrecklichen Nebenwirkungen Ihrer Behandlung sein wird?“. Dumas sieht künftige Entwicklungen voraus: „Schlimm ist, dass die Doper von nun an Ärzte sind. … Die neuen Dopingmethoden benutzen männliche Hormone, Anabolika und Kortikoide. Ihre unvernünftige Verwendung bei Gesunden birgt eine schreckliche Gefahr, so verwendet können sie Krebs hervorrufen. Medizin muss prophylaktisch arbeiten und darf keine Todesgefahr provozieren.“ (de Mondenard 1987) Gastone Nencine starb 1980 im Alter von weniger als 50 Jahren an Krebs. (Singler/Treutlein, Teil 2)

Désiré Letort, vierter der Tour de France 1967, kennt das Thema bis in seine Fingerspitzen: In seiner großen Zeit war er der Monsieur Dopage des Pelotons.

„Ich habe alles 1965 verstanden, nach einem Sturz während Paris-Brüssel, erzählt er. So 50 Fahrer lagen am Boden und was habe ich gesehen? Spritzen und Dopingmittel verstreut über die ganze Straße. Die Jungs versuchten die Spritzen und die Ampullen wieder zusammen zu suchen. … Ich verhielt mich wie alle. Da ich wissen wollte, was ich nahm, studierte ich den Vidal. Ich wurde ein wenig der Spezialist. Ich habe einige gerettet, die mitten in der Nacht zu ersticken drohten. In solchen Fällen holte man Déstré. Ich wusste was zu machen war. …“ (L’Express, 23/07/1998)

Der ehemalige Fahrer Cees Pellenaars, der in den 60ern für die Mannschaft TeleVizier mitverantwortlich war, berichtet von einem Fahrer, dessen Mittelkonsum vielleicht extrem war, aber von Verhaltensauffälligkeiten und körperlichen Zusammenbrüchen gibt es eine ganze Menge Berichte:

„Ich nahm ihn mit in ein Trainingslager nach Spanien. Dort verwandelte sich der Junge in einen wilden Löwen. Er fuhr als hätten seine Beine einen Raketenantrieb… Ich ging zu ihm hin, um mich mit ihm zu unterhalten. Ich könnte mich noch auf etwas gefasst machen, sagte er. Als ich ihn dann fragte, ob ob er nicht vielleicht ‚irgendetwas nehmen‘ würde, sprang er unvermittelt auf einen Stuhl und kramte hinten aus einem Wandschrank eine Plastiktüte voller Tabletten hervor.

Ich merkte, wie mein Herz einen Schlag lang aussetzte. Nie im Leben hatte ich so viel Feuerwerk auf einem Haufen gesehen. Gemeinsam mit einem Pfleger und einem anderen Fahrer zählten wir die Pillen. Es waren fünftausend Stück. Dazu noch Hormonpräparate und Schlaftabletten. Zu seiner eigenen Sicherheit nahm ich ihm die fünftausend kleine Bomben weg. Die Hormonpräparate und die Schlaftablettenließ ich ihm da. Kurz darauf schien er zuviele davon genommen zu haben. Er schlief mehrere Tage am Stück. Keiner bekam ihm wach. Also brachten wir ihn in ein Krankenhaus, wo sie ihm den Magen auspumpten. Damit nichts mehr schief gehen konnte, haben sie ihn auch noch an sein Bett geschnallt. Doch irgendwie kam er doch an Aufputschmittel und es gelüstete ihn nach einem Spaziergang. Als ihm eine Krankenschwester über den Weg lief, marschierte er gerade über den Flur. Und mit ihm das Bett, das mit Riemen an seinem Rücken gefestigt war.“ (Les Woodland)

José-Manuel Fuentes, erfolgreich in den ersten siebziger Jahren, drückte es so aus:

„Wir waren eine „generaticion maldita“, eine verdammte Generation. Wir hatten unser Köfferchen mit Zeug. Wenn du nicht mindestens einmal positiv getestet worden bist, dann warst du auch kein Radrennfahrer.“ (Patrick Cornillie, Alleen dalen gaat vanzelf).

Prof. Dr. Wilfried Kindermann, bis 2008 Leiter der Sportmedizin Saarbrücken und Keuls Nachfolger als Olympiaarzt, hat seine Ausbildung zum Sportmediziner in Freiburg erhalten. Damals lernte er, „dass der Radsport total dopingverseucht ist“.

„Ich hatte in Freiburg zu Beginn meiner sportmedizinischen Laufbahn ein Schlüsselerlebnis, da hat mir ein Radsporttrainer berichtet, was so alles im Radsport üblich sei, er wollte mir wohl imponieren und mir zeigen, dass ich diesbezüglich ein Waisenknabe bin. Im Nachhinein bin ich ihm dankbar, denn seitdem ist der Radsport für mich tabu gewesen. Ich hab nie irgendwelche Betreuungsaufgaben im Radsport gemacht , ich habe meinen Ärzten hier in Saarbrücken am Institut der Universität klar gemacht, dass ich es nicht wünsche, dass meine Mitarbeiter Radsportler betreuen , abgesehen von den jährlichen Gesundheitsuntersuchungen im Rahmen der Landeskader.“ (Doping und die Freiburger Sportmedizin, Juni 2008, SWR BB)

Letztendlich waren und sind es nach außen hin immer die einzelnen Fahrer, die den Kopf hinhalten, die Konsequenzen tragen müssen, in den meisten Fällen dürften andere, wie die sportlichen Leiter, bestens informiert sein. Besondere Ehre gebührt nach de Mondenard, einem der führenden Doping-Experten Frankreichs, Maurice de Muer:

„Man könnte sich die Mühe machen einmal die Anzahl der Dopingaffairen zusammen zu stellen in denen einer allein und als sportlicher Leiter verwickelt war: Maurice de Muer, an der Spitze der Mannschaften von BIC und Peugeot, ist Kandidat für die Goldmedaille mit, für die Zeit von 1970 – 1978, 24 positiven Fällen unter seinen Fahrern bei insgesamt 70 aufgedeckten Fällen (36%). … Übrigens, 1977 nach den aufeinanderfolgenden Schmutzflecken der Affairen Rachel Dard und Bernard Thévenet, mussten die Fahrer eine Erklärung unterschreiben, die den sportlichen Leiter, den Arzt und die sonstige Leitung von jeglicher Verantwortung ausnahm . … Maurice de Muir versicherte, er hätte keine Augen hinten am Kopf um seine Männer 24 Stunden am Tag zu überwachen.“

Nun, mit dieser Praxis steht de Muer nicht allein, es war und ist die übliche.

Viele Radsportler der sechziger und siebziger Jahre sollen später ein hohes Suchtverhalten aufgewiesen haben, eine mögliche Folge des Dopingmittelmissbrauches. Wobei Sportler der zweiten Reihe nach Hans Michalsky, aktiv von 1971 bis 1979, noch stärker betroffen waren, da sie kaum Dopingkontrollen zu erwarten hatten:

„Zu meiner Zeit spielte die Gabe von männlichen Hormonen eine große Rolle. Wir wurden jedoch damals schon sehr oft kontrolliert, aber Leute, die in der zweiten Reihe standen, die mehr die regionalen Rundstreckenrennen fuhren, waren weitaus gefährdeter. Von denen kenne ich viele Fälle, die heute schon garnicht mehr leben, etliche, die entweder durchgedreht sind, oder rauschgiftsüchtig sind, oder alkoholsüchtig. In diesem Bereich bestand schon damals das viel größere Problem im Zusammenhang mit Doping.“(Ralf Meutgens, REPORT 6/99)

Diese Aussage wird von der Ehefrau eines Profis der 70er Jahre in einer mail an die website cyclisme&dopage, Oktober 2003, unterstützt:

„… mittlerweile haben 75% Sportler nach ihrer Karriere mit großen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen (physischen und psychischen, Alkoholismus, harte Drogen). Viel zu viele von ihnen sterben ziemlich jung (an Krankheiten und an Selbstmord).“ Sie spricht auch über ihren Verdacht von Erbschäden bei den Kindern ehemaliger Profis. (cyclisme&dopage)

>>> 1980 – ca. 2010, die Attraktivität der Vielfalt