Die strafrechtliche Verfolgung und Aufarbeitung des DDR-Dopings
Die folgenden Zusammenfassungen und Zitate beruhen auf dem Einleitungstext von Jutta Braun und René Wiese ihres 2024 veröffentlichten Gutachtens
>>> Sportgeschichte vor G. Ein Gutachten zu Dopingpraxis und SED-Unrecht im DDR-Sport.
Die Autoren nahmen darin häufig Bezug auf
>>> Michaela Galandi: Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Zwangsdoping
Siehe hierzu auch ein Interview mit Michaela Galanti.
Chronik der strafrechtlichen Verfolgung der DDR-Dopingpraxis
Zitat:
„Die anfänglichen Ermittlungen wurden angestoßen durch den Heidelberger Molekularbiologen Werner Franke, der am 23. August 1991 Strafanzeige gegen die Sportmediziner Manfred Höppner (stellv. Direktor des SMD der DDR), Hansgeorg Hüller (HU Berlin, Institut für Pharmakologie und Toxikologie) und Günther Rademacher (Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport/FKS) stellte.“
die Berliner Strafprozesse (1998-2000) als Mustervorhaben
– 1990 Einrichtung einer „Arbeitsgruppe Regierungskriminalität“ unter Leitung von Christoph Schaefgen. Unterstützt wurde die AG durch die „Zentrale polizeiliche Ermittlungsstelle für die Verfolgung der Regierungs· und Vereinigungskriminalität“.
– Die Anfänge der strafrechtlichen Verfolgung lagen bei der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin.
– Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften, vornehmlich in den neuen Bundesländern aufgrund der Tatzugehörigkeit. Sie übernahmen einen Teil der Strafverfahren.
– Ermittelt wurde gegen ehemalige Trainer, Sportärzte und weitere Verantwortliche des DDR-Leistungssportsystems.
– Festsetzung einer Verjährungsfrist 2. Oktober 2000 für DDR-Unrecht zur Dopingpraxis durch den Bundesgerichtshof (BGH).
– Der erste Prozess begann am 18. März 1998 in Berlin gegen die Schwimmtrainer Rolf Gläser. Dieter Krause, Dieter Lindemann und Volker Frischke und die Sportärzte Dieter Binus und Rolf Pansold des SC Dynamo Berlin.
„Den Angeklagten wurde zur Last gelegt, im Tatzeitraum von 1975 bis 1989 an 19 minderjährige Schwimmerinnen des SC Dynamo Berlin androgen-anabole Steroide vergeben zu haben. Gegen den Schwimmtrainer Rolf Gläser und die beiden Sportärzte ergingen wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Beihilfe zur vorsätzlichen Körperverletzung Geldstrafen. Die Strafverfahren gegen die drei weiteren Schwimmtrainer wurden hingegen gegen die Erfüllung einer Geldauflage eingestellt. Die Verfahren gegen die beiden Ärzte wurden.“
– Der Berliner Strafprozess folgte am 18. August 1998. Vor Gericht standen die Schwimmtrainer Peter Mattonet, Berndt Christochowitz und Klaus Klemenz sowie die Sportärzte Dorit Rösler und Ulrich Sünder des TSC Berlin. Die Trainer wurden wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu Geldstrafen verurteilt. Die Verfahren gegen die Ärzte wurden mit einer Geldauflage eingestellt.
– Der dritte Berliner Strafprozess endete am 22. Dezember 1999. Der ehemalige Generalsekretär des Deutschen Schwimmsport-Verbandes der DDR (DSSV) Egon Müller wurde wegen Körperverletzung in 67 Fällen zu einer einjährigen Freiheitsstrafe zur Bewährung (2 Jahre) verurteilt. Chef-Verbandstrainer Wolfgang Richter erhielt wegen Körperverletzung in 62 Fällen eine einjährige Freiheitsstrafe auf Bewährung (2 Jahre) und Frauen-Verbandstrainer Jürgen Tanneberger wegen Körperverletzung in 48 Fällen eine einjährige Freiheitsstrafe auf Bewährung (2 Jahre).
– der vierte Berliner Strafprozess endete am 12. Januar 2000. Lothar Kipke, ehemaliger Verbandsarzt des DSSV, wurde wegen Körperverletzung in 58 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung (2 Jahre) verurteilt.
– Der fünfte und letzte Berliner Strafprozess begann am 5. Mai 2000. Angeklagte waren Manfred Ewald, Präsident des DTSB und der „in der Doping-Hierarchie an der Spitze stehende“ stellvertretende Leiter des SMD Manfred Höppner.
„Aufgrund der drängenden Verjährungsfrist am 2. Oktober 2000 beschloss das Landgericht Berlin die Zahl der ursprünglich 142 Fälle auf 20 Geschädigte zu begrenzen, um Urteile verkünden zu können. Das Gericht sprach hier die höchsten Freiheitsstrafen aus. Ewald wurde wegen Beihilfe zur Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten, Höppner zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten mit der Aussetzung zur Bewährung verurteilt.“
Die Strafprozesse in den neuen Bundesländern und Berlin (1998-2000)
„Nach den ersten Berliner Pilotprozessen, die eine Art Vorreiterrolle in der Strafverfolgung einnahmen, begannen auch die neuen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen sowie Berlin parallel in vielzähligen Strafverfahren die DDR-Dopingpraxis schwerpunktstaatsanwaltlich zu verfolgen. Während am Berliner Amtsgericht Tiergarten auch Freiheitsstrafen mit Aussetzung zur Bewährung ausgesprochen wurden, ergingen in den neuen Bundes!ändern (in der Regel) Strafbefehle, die ausschließlich Geldstrafen für die Betroffenen vorsahen. Zumeist wurden die Geldstrafen gegen eine Vielzahl von bezirklichen Trainern und Sportmedizinern, die in den Leistungszentren der DDR (Sportclubs) tätig waren, verhängt.“
Verurteilt wurden u.A. Spitzenfunktionäre und Verbandsärzte. Am 16. März 1999 wurde u. A. der ehemalige Direktor des Sportmedizinischen Dienstes (SMD) Dietrich Hannemann wegen Beihilfe zur Körperverletzung in 109 Fällen zu einer Geldstrafe in Höhe von 45.000 DM verurteilt. Ebenfalls am 16.3.1999 erhielt der stellvertretende Direktor des SMD Dietbert Freiberg wegen der Beschaffung und Überwachung der Vergabe von Dopingmitteln und wegen der Beihilfe zur Körperverletzung in 72 Fällen eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten auf Bewährung (2 Jahre).
„Zu den Verurteilten zählten weitere namhafte Sportfunktionäre wie beispielsweise Rudolf Heilmann (Leiter der ZK-Abteilung Sport), Günter Erbach (Staatssekretär für Körperkultur und Sport) oder Horst Röder (Vizepräsident des DTSB), die zu Freiheitsstrafen mit Aussetzung zur Bewährung verurteilt wurden. Aber auch Verbandsärzte wie Horst Tausch (Deutscher Schwimmsport-Verband (DSSV) oder Hartmut Riede! (Deutscher Verband für Leichtathletik der DDR/DVfL) wurden per Strafbefehl verurteilt.“
Fazit Jutta Braun / René Wiese:
Es gab 38 Strafverfahren gegen 67 Beschuldigte. 73 % der Beschuldigten wurden verurteilt, 65% davon erhielten eine Geldstrafe, 35 % davon eine Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Bilanz blieb hinter den Erwartungen vieler weit zurück.
„Das Magazin Der Spiegel ging 1999 allein von einer Zahl von 1300 beschuldigten Personen aus dem DDR Leistungssportsystem aus, die von den Ermittlungsbehörden ausgemacht und zu Freiheitsstrafen (mit Bewährung) oder Geldstrafen nach Muster der Berliner Strafprozesse verurteilt werden sollten. Diese Dimension der juristischen Aufarbeitung konnte in der relativ kurzen Ermittlungszeit nicht eingelöst werden. Die Prozesse sind das Ergebnis einer Ermittlungsstrategie, die dadurch gekennzeichnet war, sich durch das Dickicht des geheimnisumwitterten DDR-Sports zu schlagen.“
Interview mit Dr. Michaela Galandi, Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster, Autorin der Dissertation
„Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Zwangsdoping“
15.11.2022
Der Fall der Berliner Mauer liegt mehr 30 Jahre zurück. Warum ist die strafrechtliche Vergangenheitsbewältigung von DDR-Unrecht mit Blick auf das Zwangsdoping nicht nur für die Betroffenen wichtig?
Es kann insbesondere für das kollektive Erinnern von Bedeutung sein. Die von der bundesdeutschen Strafjustiz getroffenen Feststellungen können den gesellschaftlichen und politischen Diskurs bereichern – nicht nur zwischen Betroffenen, sondern auch zwischen Tätern und Opfern oder für jüngere Generationen, die das geteilte Deutschland nur noch aus dem Geschichtsunterricht kennen.
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Wie fällt denn Ihr Urteil über die juristische Aufarbeitung des DDR-Staatsdopings aus?
Gemischt. Ich fand es überzeugend, wie die bundesdeutschen Gerichte die Voraussetzungen dafür erläutert und bejaht haben, um die Täter, die Sportlern Dopingsubstanzen verabreicht haben, wegen einfacher vorsätzlicher Körperverletzung zu verurteilen. Schwergetan haben sie und die Schwerpunktstaatsanwaltschaften sich hingegen in der Auseinandersetzung mit weiteren Körperverletzungstatbeständen. So kann das Setzen einer Spritze zur Dopingmittelinjektion laut der vorherrschenden Meinung in der Rechtsprechung zum Beispiel unter Umständen den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung erfüllen. Auch hätten sich die Gerichte mehr mit dem Straftatbestand einer lebensgefährdenden Behandlung oder sogar der schweren Körperverletzung auseinandersetzen können. …
Und was ist aus Ihrer Sicht nicht vertretbar?
Nicht haltbar ist meines Erachtens die zum Teil von den Schwerpunktstaatsanwaltschaften und der bundesdeutschen Justiz vertretene Annahme, dass sowohl nach dem Strafrecht der DDR als auch nach dem bundesdeutschen Strafrecht in gewissen Konstellationen eine ‚Mittäterschaft‘, das heißt ein gemeinschaftliches Zusammenwirken von zum Beispiel Trainer und Sportarzt, bei der Dopingmittelvergabe vorgelegen habe. Das Strafrecht der DDR verlangte insofern eine tatsächlich gemeinsame Tatausführung aller Beteiligten. Das ist ein engeres Verständnis von der Mittäterschaft als in der Bundesrepublik, wo bereits eine Mittäterschaft bejaht werden kann, wenn eine Person nicht an der unmittelbaren Tatausführung selbst beteiligt war, wohl aber beispielsweise bei der Vorbereitung. Mein zweiter Punkt: Die ‚mittelbare Täterschaft‘, das heißt, wenn zum Beispiel ein Trainer seinem Schützling Dopingmittel in Tablettenform gab, hätte intensiver problematisiert werden können. Selbiges gilt für die Anstiftung in Bezug auf staatliche Verantwortungsträger. Schließlich finde ich es auch nicht nachvollziehbar, dass der Straftatbestand der Nötigung nicht berücksichtigt wurde. Natürlich wäre es schwierig geworden, den ,Erfolg‘ einer Nötigung im konkreten Fall zu beweisen. Es wäre aber jedenfalls im Sinne einer vollständigen strafrechtlichen Aufarbeitung aller in der DDR begangenen Straftaten im Leistungssport gewesen, auch dieses Delikt zu beachten.
Die strafrechtliche Vergangenheitsbewältigung mit Blick auf das DDR-Zwangsdoping ist damit abgeschlossen. Wie beurteilen Sie diese abschließend?
Trotz einzelner Kritikpunkte überwiegend positiv. Die bundesdeutschen Strafurteile belegen eindrücklich, worüber zuvor nur spekuliert werden konnte. Sie zeigen das erschreckende Ausmaß des DDR-Dopingsystems. Diese Bedeutung wird auch nicht durch die verhältnismäßig geringen Strafen geschmälert. Entscheidend ist, dass aufgezeigt wurde, wie der DDR-Leistungssport organisiert war und auf welchen geheimen Wegen die Dopingmittel verabreicht wurden. Die Gerichte haben in diesem Zusammenhang die wichtigen sportlichen Institutionen und ihre jeweiligen Aufgabenbereiche benannt und die schrittweise Entwicklung hin zum Netzwerk ‚Zwangsdoping‘ erläutert. Sie haben zudem die in der DDR eingesetzten Dopingmittel aufgelistet und ihre Wirkungsweisen konkret beschrieben. Diese Ausführungen können jeder Ostalgie entgegenwirken und sind hoffentlich auch für die Dopingopfer hilfreich bei der Verarbeitung ihrer Erlebnisse.
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