Doping: 1977 Ludwig Dotzert, Ein Geruch von Apotheke

Doping in der BRD – 1970er Jahre

Ludwig Dotzert, 7.5.1977: Ein Geruch von Apotheke

Am 7. Mai 1977 erscheint in der Frankfurter Rundschau ein Artikel von Ludwig Dotzert, in dem er das verbreitete Doping in Deutschland West schildert. Als Beispiel dienen ihm die Manipulationen zu den und während der Olympischen Spiele in Montreal. Genau beschreibt er die Komplizenschaft auf allen Ebenen -Sportler, Trainer, Funktionäre, Mediziner. Der Autor schreibt über die offizielle Gegenbewegung, die sich in der >> Antidoping-Charta des deutschen Sports (Grundsatzerklärung für den Spitzensport) manifestierte, meldet jedoch erheblich Zweifel an der Durchsetzbarkeit an.

Der Artikel wurde doping-archiv.de/cycling4fans.de von der Frankfurter Rundschau zum Abdruck überlassen. Vielen Dank.

Ein Geruch von Apotheke
Der permanente Anabolika-Skandal im Sport

Gespannt hatte der Athlet das Ergebnis der Dopingkontrolle abgewartet. Endlich war es soweit. Seine Urinprobe gab zu Beanstandungen keinen Anlaß, wies jedoch einwandfrei aus, daß er Mutterfreuden entgegensehe. Des Rätsels Lösung bestand darin, daß der „schwangere Mittelstreckler“ in der Sorge, die Kontrolleure könnten sein „schnelles Pülverchen“ entdecken, an der richtigen Körperstelle mit einer unsichtbaren Kanüle ausgerüstet gewesen war, deren Inhalt er von seiner Ehefrau ausgeliehen hatte.

Seit einiger Zeit macht diese Geschichte unter den Spitzensportlern die Runde. Wie hoch ihr Wahrheitsgehalt einzuschätzen ist, weiß mit letzter Sicherheit zwar niemand zu sagen; aber auch als Produkt von Galgenhumor trägt sie zur Beschreibung einer bedrückenden olympischen Schwarzzone bei, einer Zone, in der das Gebot der Fairneß längst von dem Gebot, sich nicht erwischen zu lassen, abgelöst ist, in der Injektionsnadeln, Muskel- und andere Pillen, Aufputschdrogen, Transfusionsschläuche, Elektrodenanschlüsse, Luftklistiere und andere klinische Artikel zum Teil zur Grundausstattung gehören, zum anderen Teil zu Experimentierzwecken in Gebrauch sind.

Biochemische Trickkiste

Trainingslager entarten … zu Intensivstationen für Gesunde; Startvorbereitungen ohne den Griff in die biochemische Trickkiste gelten als dilettantisch; Trainer ohne pharmazeutische Spezialkenntnisse haben kaum noch eine Chance, als Erfolgstrainer zu reüssieren. Der olympische Hain riecht nach Apotheke.

Die Entwicklung ist nicht neu. Jahre lang nahm Willi Daume, auf der ganzen Welt als eine der höchsten 0lympischen Autoritäten anerkannt, jede Gelegenheit wahr, ihre Gefahren für die Zukunft der Spiele in den dunkelsten Farben an die Wand zu malen. Daume ließ in diesem Zusammenhang keinen Zweifel daran, daß es sich hier um eine Bedrohung handele, vor deren Ausmaß das Amateurproblem zu einer Bagatellsache schrumpft und selbst Politschocks und Terrorängste in den Hintergrund treten.

Mit diesen Erscheinungen, so prognostizierte er, werde der olympische Geist, gleichgültig, wer oder was das ist, eines, wenn auch vielleicht noch fernen Tages fertig werden; mit dem tödlichen Trend zum. medaillenjagenden Kamikaze-Athleten, wenn nicht bald eine Wende eintrete, wohl kaum. Die olympische Apokalypse, von der nicht nur der ehemalige Vizepräsident des Internationalen Olympischen Comitees (IOC) bedrängt wurde, basiert auf einer Reihe bestürzender Realitäten, die schon jetzt nicht mehr wegzuleugnen sind.

Wie weit der olympische Sittenverfall fortgeschritten ist, läßt sich besonders anschaulich an der Aktion „Luftklistier“ demonstrieren, die der Öffentlichkeit erst Monate danach bekannt wurde. Solange hielt die Schweigemauer, die um die aufgeblasenen Mastdärme der Olympiaschwimmer errichtet worden war.

Inzwischen liegt eine „Dienstliche Erklärung“ des Leitenden Direktors im Bundesausschuß für Leistungssport (Ba-L) vor, aus der zu entnehmen ist, daß hier keineswegs nur ein paar spinnerte Einzelgänger am Werk waren, sondern Dutzende von hohen und höchsten Funktionären unbekümmert mitzogen, als es darum ging, der Konkurrenz auf hinterlistige Weise in letzter Minute ein Schnippchen zu schlagen. Erst im April 1976, also wenige Wochen vor Beginn der Spiele in Montreal, wurden nach der Darstellung des Ba-L-Direktors Helmut Meyer konkretere Hinweise auf ein Mittel an die zuständigen Stellen herangetragen, das Leistungssteigerungen von einem Prozent und mehr garantiere.

Für die Preisgabe seines Wissens verlangte‘ der Unterhändler die runde Summe von einer Million Mark. Schon dieser Betrag und die Kürze der Frist, in der sich der Fortschritt vollziehen sollte, hätte dem Fachmann sagen müssen, daß hier etwas faul ist. Der dreiste Geschäftemacher bekam jedoch nicht etwa die Tür gewiesen, sondern wurde zu weiteren Verhandlungen eingeladen, die am 16. Juni 1976, also genau vier Wochen vor Beginn der Wettkämpfe von Montreal, zu einem „erfolgsorientierten Vertrag“ auf Prämienbasis führten. Letztes Wort: 150 000 Mark bei einprozentiger, 250000 Mark bei zweiprozentiger Leistungssteigerung.

Am 25. Juni ließen die Hexenmeister dann endlich die Hosen herunter: Das Geheimnis der „Luftdusche“ ging zwecks alsbaldiger Versuche am Mann in den Besitz der bundesdeutschen Medaillenplaner über. Entsprechende Tests fanden im kanadischen Trainingslager statt, verliefen „positiv“. Die Luft im Mastdarm wurde erst vor Ort, also bei den Vorkämpfen in Montreal abgelassen, „nicht zuletzt wegen mangelnder technischer Voraussetzungen“ eine euphemistische Umschreibung dafür, daß sich in der Montrealer Schwimmhalle keine Räumlichkeit fand, wo sich die peinliche Prozedur unbeobachtet erledigen ließ.

Nur diesem Umstand war es schließlich zu verdanken, daß uns der letzte Akt einer olympischen Klamotte erspart blieb. So mies das Stück, so glänzend seine Besetzung. In der „Dienstlichen Erklärung“ des Leitenden Ba-L-Direktors werden unter anderem namentlich erwähnt (in der Reihenfolge ihres Auftretens): Der Aktivensprecher des Deutschen Verbandes für Modernen Fünfkampf, Heiner Thade, Mitglied des Beirats der Aktiven im Ba-L: Von ihm stammte die erste Ankündigung des „Wundermittels“.

Handball-Nationalspieler Hans-Jürgen Bode, bis Dezember 1975 Vorsitzender des Beirats der Aktiven und Vorstandsmitglied des Ba-L, der ohnehin verpflichtet ist, Leistungen zu fördern: Er verlangte die Million und verlieh dieser Forderung dadurch Nachdruck, daß er im Falle der Ablehnung das Mittel an andere Nationen verkaufen wolle.

Ba-L-Direktor Meyer selbst sowie seine engsten Mitarbeiter: Sie entschlossen sich zur Weiterbehandlung der Angelegenheit, „da uns gerüchteweise bekannt war, daß im internationalen Rahmen im Schwimmen für Montreal verschiedene Möglichkeiten und Methoden zur Leistungssteigerung erprobt und überprüft würden“.

Der stellvertretende Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats, Professor Dr. Josef Keul; er erklärte das Mittel für nicht gesundheitsschädlich.

Dr. Manfred Donike, Doping-Experte am Institut für Leibesübungen in Münster/Westfalen: Er bestätigte, daß das Mittel beziehungsweise seine Anwendung nicht gegen die Doping-Vorschriften verstößt.

Ministerialrat Detlev Flotho vom Bundesinnenministerium: Er versprach für „den genannten Zweck“ 250 000 Mark aus Bundesmitteln bereitzustellen, die umständehalber dann allerdings nicht bezahlt wurden.

Schwimmverbandspräsident Manfred Kreitmeier, sein Vizepräsident Ortwin Kaiser und Schwimmwart Hermann Henze: Sie gingen auf das Geschäft ein, auch nachdem heraus war, um was es sich handelte, und akzeptierten die angedrohte Konventionalstrafe in Höhe von 100 000 Mark, die laut Vertrag auf einem Bruch der Schweigepflicht stand.

Der Generalsekretär des Deutschen Sportbundes (DSB), Karlheinz Gieseler, und der Generalsekretär des Nationalen Olympischen Komitees, Walter Tröger: Sie wurden informiert und versäumten es, Alarm zu schlagen.

Die Ärzte. der bundesdeutschen Mannschaftsführung: Sie boten ihre medizinische Hilfe bei der Praktizierung an.

Bundestrainer, Heimtrainer und sämtliche Mitglieder der bundesdeutschen Mannschaftsführung, die ins Vertrauen gezogen worden waren: Ihnen bescheinigte Meyer den Gedanken „mit großer Bereitwillikeit“ aufgenommen zu haben. Nur Ba-L-Vorsitzender Heinz Fallak erhob Bedenken. Er wurde ausgelacht. Zu den wenigen Nichteingeweihten gehörte auch der Präsident des Deutschen Sportbundes, Willi Weyer.

Mitschuld der Funktionäre

Willi Daume:
„Es ist eine etwas tragikomische Art von Manipulation, wenngleich Regeln nicht dagegen sprechen und keine gesundheitlichen Gefahren zu befürchten sind. Vielleicht können Sie aber mit dem gleichen Recht die Frage stellen, was von den Schwimmern zu halten wäre, die ihre Köpfe kahl scheren und teilweise sogar ihren ganzen Körper glattrasieren – an allen Stellen, wo Haare sind. So was ist ja doch manchmal passiert, wir alle haben es gesehen. Wo also ist die Grenze? Ich möchte meinen: dort, wo gegen den guten Geschmack verstoßen wird.
SZ: Sie sehen in Ihrem Amt keine Möglichkeiten, derartige Manipulationen in den Jahren vor oder wenigstens bei den Olympischen Spielen zu verhindern?
Man kann nicht alles reglementieren. Die Schwimmer sind ja auch in Montreal sehr schnell selbst zur Einsicht gekommen. Damit ist doch der Fall erledigt. Und er hatte sogar einen kleinen Sinn für Humor geweckt.“
(>>> SZ, 16.4.1977)

Peinlicher geht’s nicht. Statt mit heller Empörung reagierten die Moralapostel des bundesdeutschen Sports jedoch nur sehr kleinlaut und später mit dem Versuch, die „Aktion Luftklistier“ zu einer „etwas tragikomischen Art von Manipulation“ herunterzuspielen, die immerhin den Vorzug habe, nicht mit den Regeln zu kollidieren und keine gesundheitlichen Gefahren befürchten zu lassen. Für Willi Daume, der sich dieser Verniedlichungswelle in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ ausdrücklich anschloß und den Fall für erledigt erklärte, hat die Geschichte „sogar einen kleinen Sinn für Humor geweckt“.

„Heitere Spiele per Luftklistier“, lästerten einige Enttäuschte, die sich daran erinnerten, dass eigentlich Ritterlichkeit und andere humanistische Ideale bei- der Wiedererweckung der olympischen Idee Pate gestanden hatten; aber es waren nicht mehr allzu viele. Der Desensibilisierungsprozeß, der selbst vor den integersten Sachwaltern der Coubertinschen Idee nicht mehr haltzumachen scheint, ließ auch über die Slapstick-Sequenzen im olympischen Schwimmerquartier Gras wachsen.

„Ist das der Weg in die Zukunft, und man kann ihn nicht unterbinden“, warnt der ehemalige Rekordweitspringer und Mediziner Professor Manfred Steinbach, Ministerialdirigent bei der hessischen Landesregierung, „dann werden die Falken unter uns alsbald an die Organtransplanteure herantreten, hier ein Wurfarm, dort ein Sprungbein, hier ein zusätzlicher Muskel, dort eine verdoppelte Sehne. Dann werden die Herzspezialisten bald das Problem trainingsbewußter Schrittmacher diskutieren.“

Die Verlockung wäre schon deshalb groß, weil genau wie beim Aufblasen der Därme kein Wort in den Regeln zu finden ist, das derartiges verbietet. Außerdem zeigt die Erfahrung, daß Verbote auf diesem Gebiet nur wenig fruchten. Die Hemmschwellen sind abgewetzt, und zwar bis hinauf in die Chefetagen. Seit der Inhalt des Meyer-Papiers durchsickerte, wissen wir es sogar aus dienstlicher Quelle. Wen wundert es unter diesen Umständen noch, daß sich im Hochleistungssport so gut wie ungehindert eine Seuche ausbreitete, von der nun wirklich niemand mehr sagen kann, sie bringe keine gesundheitlichen Risiken mit sich und verstoße auch nicht gegen die Paragraphen? Gemeint ist die Abhängigkeit vieler Athleten von anabolen Hormonen, von rezeptpflichtigen Arzneimitteln also, die den Muskelaufbau fördern.

Die Sprengkraft, die in den Pillenröhrchen steckt, erschütterte das Wunderland des Hochleistungssport auf sämtlichen Ebenen. Für den Sportmediziner Dr. Alois Mader stebt fest, daß ohne sie in den sogenannten kraftintensiven Disziplinen keiner der zur Zeit gültigen Rekorde möglich gewesen wäre. Danach hat die Kraftpille die Höchstmarken im Kugelstoßen, Hammer-, Diskus- und Speerwerfen, im Gewichtheben und in verwandten Bereichen bereits weit über das eigentliche Menschenmögliche hinauskatapultiert. Der Erfolg wirkte ansteckend. Von den kraftintensiven Sportarten fraß sich der Anabolika-Virus querbeet fast durch das gesamte olympische Programm bis hin zu den Kunststoffbahnen der Sprinter. „Neunzig Prozent der Leichtathletik-Nationalmannschaft schlucken und spritzen“, behauptete in einem Zeitungsinterview („Die Welt“) der bundesdeutsche 10,0-Sprinter Manfred Ommer, ein überzeugter Pillenverbraucher, der sich nicht ausreden läßt, daß auch die Heldinnen von Montreal, Annegret Richter und Inge Helten, entsprechende Präparate zu sich nehmen („Ich brauche mir doch nur ihre Oberschenkelmuskulatur anzuschauen“). Annegret Richter will sich gegen diese Behauptung mit einer gerichtlichen Klage zur Wehr setzen, alle übrigen scheinen es vorgezogen zu haben, sich taub zu stellen.

Ein geradezu glühendes Bekenntnis zur Pille legte Walter Schmidt, der Weltrekordler im Hammerwurf, ab, der keinen Anlaß sieht, sich von unserer „Anna Bolika“ zu trennen. Oder die schädlichen Nebenwirkungen, die das Präparat mit sich bringt, streiten sich die Gelehrten. Die Skala reicht von „Überhaupt keine!“ bis zur „Erhöhung der Leberkrebs-Anfälligkeit!“ Uwe Beyer, Bronzemedaillengewinner im Hammerwerfen bei den Olympischen Spielen von Tokio, schildert seine Erfahrungen so: „Die Eßgewohnheiten ändern sich. Ich hatte einen riesengroßen Appetit. Plötzlich wog ich 120 Kilo. Mein Normalgewicht liegt bei 107 bis 108 Kilo.“

Den Preis dafür zahlte Beyer nach eigener Beobachtung, als er die obligatorische Pillenpause einlegte: „Nach drei Tagen war alles weg. Ich wurde lustlos, depressiv, ja es ging hin bis zur Hoffnungslosigkeit und Resignation. Ich litt regelrecht unter Entziehungserscheinungen wie ein Drogenabhängiger, und dabei hatte ich nur geringe Dosen genommen.“ Als Beyer sein Leid [Entzugserscheinungen] jenem Professor Dr. Keul (Freiburg) klagte, der in Anabolika- und Spritzenfragen hierzulande mit den Ton angibt, soll ihm dieser geraten haben: „Dann setz‘ das Zeug wieder an.“

Beyers Leiden wiederholten sich in großem Stil, als die Schwerathleten in Montreal, um nicht bei der Dopingkontrolle aufzufallen, gezwungen waren, kurze Zeit auf Ihre ständige Begleiterin „Anna Bolika“ zu verzichten. Aus den Quartieren der Zwerge und Kolosse – je nach Gewichtsklasse – drangen Berichte nach außen, die sich von Krankenberichten. in einer Nervenklinik nur wenig unterscheiden. Das heulende Elend waberte durch die Trainingshallen der Weltstärksten von denen ein großer Teil plötzlich an Gewichten scheiterte, die sie noch wenige Wochen vorher „Im Schlaf“ zur Hochstrecke gebracht hatten.

Gesundheitsstörungen

Unter der Überschrift „Das Turnier der Anaboliker“ resümiert das offizielle Standardwerk des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland: „Nicht die Rekorde bestimmten das Gewichtheberturnier von Montreal, sondern die Ausfälle. Die Muskelpille hob nicht mehr mit … Symptome einer Entziehungskur waren unverkennbar … Der Russe Juri Saizew und der Mitteldeutsche Gerd Bonk stellten absolute Minusrekorde auf; Saizew blieb 30 Kilogramm hinter seiner Bestleistung, Bonk 27,5 Kilogramm. Zwölf Weltrekorde wurden in München verbessert (wo es noch keine Anabolikakontrollen gab), nur noch vier in Montreal.“ Sieben Gewichtheber, die, den Einnahmeschluß versäumt hatten, wurden in Montreal ertappt, darunter zwei Olympiasieger. Sie mußten ihre Medaillen zurückgeben.

Andere Anaboliker kamen nach Überzeugung der Pillengegner nicht so billig davon. Auf das Konto der Pillensucht schreiben sie Potenzstörungen, Amokläufe, Selbstmordversuche und Selbstmorde, schreiben. sie Körper- und Muskeldeformationen, die den Betroffenen das Schimpfwort Monster eingetragen haben, schreiben sie Erweiterungen der Prostata mit entsprechenden Leiden und ungewöhnliche Ausdehnungen von Nieren und Leber.

Die Anabolika-Verharmloser mit Professor Dr. Keul von der Freiburger Sportärzte-Hochburg an der Spitze verweisen zwar diese Alarmzeichen entweder schlankweg in das Reich der Schauermärchen oder betrachten sie als Folge unfachmännischer Überdosierung; immerhin müssen auch sie zugeben, daß anabolikaschluckende Frauen und Kinder auf fatale Überraschungen gefaßt sein müssen. Stimmbruch, vorzeitige Beendigung des Wachstums, veränderte Fettverteilung, veränderte Schambehaarung, Wesensveränderungen bei Frauen zählt Keul in diesem Zusammenhang selbst auf, von knörendem Frauenbaß, Virilisierungserscheinungen, Menstruationsbeschwerden, vorzeitigem Eintritt in die Pubertät und pathologischen Veränderungen des Stoffwechsels spricht die streitbare >>> Brigitte Berendonk, ehemals eine der besten bundesdeutschen Sportlerinnen, heute Oberstudienrätin in Heidelberg.

In einem Anfall von Bekennermut räumt Professor Keul ein, daß sogar gestandene Medaillenjäger vor schädlichen Nebenwirkungen nicht gefeit sind. Keul wörtlich: „Die verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen bei – einer geringen. Zahl von erwachsenen Sportlern nach Einnahme von anabolen Steroiden Funktionsstörungen der Leber.“ Zur Beruhigung fügt der Freiburger Athletentröster allerdings schnell hinzu, daß sich diese Störungen nach Absetzen der anabolem Hormone völlig zurückbildeten und einige anabole Steroide überhaupt keine Funktionsstörungen der Leber aufwiesen, vorausgesetzt, daß „therapeutische Dosen“ verwandt würden. Trotz ihres Selbstverteidigungseifers hat sich die Position der Anabolika-Verharmloser im Laufe der Diskussionen zumindest optisch derart verschlechtert, daß einige von ihnen. darunter auch jener Professor Dr. Keul, zur Verblüffung des Publikums inzwischen in die Front der Pillengegner eingeschwenkt sind.

Ob diese Kehrtwendungen mehr dem Druck der öffentlichen Meinung oder mehr der Unlösbarkeit des Problems zu verdanken sind, im Falle der Muskelpille einen wissenschaftlichen Nichtschadennachweis zu führen, kann dahingestellt bleiben.

Als sicher darf dagegen angenommen werden, daß die am vorigen Wochenende in Frankfurt verkündete Anti-Doping-Charta des Deutschen Sportbundes auch. aus Kreisen praktizierender Anabolika-Experten lautstarken Beifall erhält; In dieser Erklärung werden alle Arten von Leistungsmanipulation noch einmal feierlich auf den Index gesetzt. Dort stehen sie zwar in mannigfaltiger Form – schon seit Jahren, und in einigen Ländern sind Anabolika sogar als Zusatz zur Schweinemast verboten; aber offenbar kann man sie nicht oft genug verdammen. Sicher dürfte auch sein, daß in den Beifall sogar die „Falken“ unter den Sportärzten einstimmen werden.

Gleich dahinter beginnt freilich wieder unsicheres Gelände. Die Erfahrung zeigt, daß Manipulationsverbote für die Praxis wenig bedeuten, solange die Kontrolle nicht funktioniert. Um diese zum Funktionieren zu bringen, wäre jedoch so etwas wie ein geistiger Mutationssprung notwendig, für den keinerlei Anzeichen zu erkennen sind. Arger denn je tobt die olympische Materialschlacht um Medaillen und Rekorde, die Renommierstücke der Nationen und Gesellschaftsordnungen. Der Sport, der sich so oft über seinen zu niedrigen Stellenwert beklagt, hier wird er zur Haupt- und Staatsaktion für die Mächtigen jeder Couleur. Über das Wir-Bewußtsein und die Identifikationseffekte, die er herstellt, kommen sich die da oben und die da unten wenigstens von Zeit zu Zeit näher, verwischen sich Gegensätze, die normalerweise als unüberbrückbar gelten.

Mindestens 18 Sportarten

„Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen“, wenn der „eigene Mann“ als Erster über die Ziellinie spurtet; Zorn, Verdruß und öffentliche Anprangerung der Sündenböcke drohen, wenn er hinterherläuft. Wer mit Leistungssport befaßt ist oder ihn selbst ausübt, spürt unter diesen Umständen die Faust im Nacken. Der Platz im Finale ist für ihn ein öffentlicher Auftrag. Zugleich jedoch ist ihm auferlegt, stehenden Auges auf Erfolgschancen zu verzichten, wenn sie sich mit ethisch-moralischen und medizinischen Grundregeln, von den Regeln der Komitees und Verbände ganz zu schweigen, nicht vereinbaren lassen. Dies gilt auch für den Fall, dass andere nicht so pingelig sind und dass ohne den international längst üblich gewordenen Pharmazieschub in mindestens achtzehn Sportarten kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist.

Die Figuren, die in dem sich so ergebenden Spannungsfeld schmoren, haben kein leichtes Los. Hier kommt auf die Dauer kaum einer ohne angebranntes Gewissen davon. Kontrolleure und Kontrollierte schweben in der Gefahr, zu Komplizen zu werden, prophetische Warner sehen sich plötzlich in der Rolle des duldenden Mitwissers. Selbst Willi Daume scheint in dieser Situation überfordert. Seit Montreal erweckt der wortgewaltige Mahner, den Eindruck eines Mannes, der es mit keinem verderben möchte.

Er nennt die Anaboliker Betrüger, sichert ihnen jedoch fast im selben Atemzug eine Art Generalamnestie zu („… ganz sicher wird es in unserem Land keinerlei Nachschnüffelei geben.“); er ahnt, daß es hier wohl nur ein Heilmittel gibt, nämlich die Katastrophe, und läßt dennoch auf die bundesdeutschen Sportärzte, die an der gefährlichen Reise mit Spritzen, Luftklistier und Pille teilgenommen haben, nichts kommen. Kurz: Er malt die Perspektiven schwarz und wäscht Personen, die sich in der entsprechenden Richtung fortwährend schuldig machen, weiß. Zustände, die ihn früher zutiefst beunruhigten, nehmen sich in seinen neuesten Darstellungen als halb so schlimm aus. Das Beispiel stimmt nicht hoffnungsvoll.

Manifest ohne Wirkung?

Auch andere Vorzeichen deuten darauf hin, daß die neuerliche Ächtung jeglicher Manipulationen, an der eine Dreierkornmission des Deutschen Sportbundes und des Nationalen Olympischen Komitees monatelang mit bewundernswerter Akribie arbeitete, nur wenig Aussicht hat, kurzfristig eine nachhaltige Wende einzuleiten. Noch nie wurde ein Anti-Doping-Manifest gründlicher vorbereitet; aber auf das schlichte Gegenargument der Praktiker – „Ja, wenn das so ist, dann brauchen wir nirgends mehr hinzufahren und können das Geld für die Spiele 1980 in Moskau sparen“ – vermag auch dieses Papier keine überzeugende Antwort zu geben.

Eines muß man dem schlichten Argument nämlich lassen: Es trifft den Dollpunkt des Problems ziemlich genau. Während in der Bundesrepublik eine Art olympischer Religionskrieg tobt, „werden anderswo bereits neue Pillen gedreht, die noch wirksamer und noch schwerer nachweisbar sein sollen. Eine Rechtfertigungsideologie für den weiteren Anabolika-Einsatz auch in bundesdeutschen Medaillenschmieden ist unter diesen Umständen schnell zusammengebastelt.

Der 1974 aus der DDR in die Bundesrepublik übergewechselte Sportarzt >>> Dr. Mader bat dabei die wohl blumigste Formel gefunden. Wer sich in der zur Zeit gegebenen Situation ernsthaft bemühe, die medikamentösen Hilfen für den Hochleistungssportler aus dem Verkehr zu ziehen, so befindet er sinngemäß in einer Entgegnung auf die Anklagen der Brigitte Berendonk (und nun wörtlich weiter), „benutzt die eigenen Athleten als Hasen, die er zwischen intelligenteren Igeln zuschanden hetzt“. Wer möchte sich dies schon nachsagen lassen?