Reform Doping-Kontrollsystem: Medizinische Ausnahmegenehmigung /TUE

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Medizinische Ausnahmegenehmigung / Therapeutic Use Exemption (TUE)

Die Diskussion um eine Reform der Handhabung Medizinischer Ausnahmegenehmigungen muss auch im Kontext der Diskussion um eine >>> Verschlankung der WADA-Verbotsliste gesehen werden.

WADA: Therapeutic Use Exemptions


Die TUE sind dazu gedacht, Sportler*innen die Teilnahme an sportlichen Ereignissen zu ermöglichen trotz z. B. chronischer und/oder allergischer Erkrankungen. Die TUE-Anträge betreffen Medikamente, die auf der Verbotsliste stehen und werden von Ärzten verordnet, eingereicht, überprüft und genehmigt. Damit soll es den Betroffenen ermöglicht werden, das Leistungsniveau zu erreichen, dass sie dopingfrei ohne Krankheit hätten.

Solche Ausnahmegenehmigungen existieren seit Jahrzehnten, doch erst mit Gründung der WADA wurden die Regellungen international vereinheitlicht. Solange es Ausnahmegenehmigungen gibt, wurden sie auch dazu benutzt, um verbotene Medikamente, die als Dopingmittel eingestuft waren, auf ‚legale‘ Weise einnehmen zu können. Sportärzte spielten bereitwillig mit. Die meisten bekannt gewordenen Affairen betreffen Corticosteroide und ß2-Agonisten, mit denen vor allem Asthma behandelt wurde. In vielen Sportarten scheint Asthma endemisch aufzutreten. Zweifel sind verbreitet und auch begründet, wie die jüngsten Fälle um den Britischen Radsportverband British Cycling und Team Sky mit Braddley Wiggins und Chris Froome deutlich zeigen. TUE wurden in diesem Zusammenhang von Trainer Shane Sutton ganz selbstverständlich als sinnvolle ‚marginal gains‘ angesehen (Team Sky und Doping).

Die Diskussionen um Asthma im Hochleistungssport und die benötigten Medikamante füllen Bände. Studien um Studien wurden gefertigt, doch die Auseinandersetzungen dauern an. Fördern bestimmte Sportarten Asthma? Unter welchen Bedingungen tritt es gehäuft auf? Wie hoch müssen die Dosierungen sein, um zu helfen? Ab wann treten leistungssteigernde Effekte auf? Wie verhalten sich die Mittel im Körper unter bestimmten Bedingungen? usw. . Die Antworten hierzu fallen unterschiedlich aus ebenso die Interpretationen der Ergebnisse. Grenzwerte wurden und werden immer wieder verändert und in Frage gestellt. Ganz abgesehen davon, dass sich weltweit die gängigen Behandlungsmethoden stark unterscheiden. Sich daraus entwickelnde Kontroversen können heftig ausfallen.

UCI-Präsident David Lappartient verlangte z.B. das TUE-Verbot für Corticosteroide. Er steht damit in der Tradition seines Landes, in Frankreich gab es schon lange Zeit kritischere Haltungen gegenüber diesen Medikamenten, die im beliebten Radsport seit den 1970er Jahren stark missbräuchlich angewandt wurden.

Die Bewegung für einen glaubwürdigen Radsport MPCC gründete sich ebenfalls in Frankreich und ist ein Beispiel dafür, dass sich aus dem Sport heraus, ohne Einbindung der Anti-Doping-Organisationen, etwas verändern kann, sofern der Leidensdruck groß genug ist. Sie verlangt von seinen Radteams die – freiwillige – Mitglieder sind, dass Fahrer, die Corticoide benötigen, eine 15tägige Rennpause einlegen.

OLIVIER DE HON, livier de Hon, Anti-Doping-Agentur der Niederlande

Olivier de Hon stellt die Problematik in seiner Dissertation, S. 134ff ausführlich vor.

The frequent changes over the last decade in the prohibited list regarding respiratory medications still lead to misconceptions about these rules among athletes and the medical world. And while confusion may be unavoidable to a certain degree, especially in a complex set of rules such as in anti-doping, it can hardly be called effective. The confusion could be diminished if WADA would publish its determination on the three criteria that guide the prohibited list, with respect to all (groups of ) substances and methods that are on that list.

Die Meinung, dass sich in Bezug auf die TUE etwas ändern muss, scheint verbreitet. Doch Vorschläge dafür, was zu verändern wäre, sind rar.

Kleine Geschichten zur Verwendung im Sport finden sich auf c4f unter
Corticosteroide / Glukocorticoide
und unter
Beta-2-Mimetika / Beta-2-Agonisten.

PERIKLES SIMON, Universität Mainz

die Zeit: „Die gesunden Sportler haben Angst, dass sie abgehängt werden“, 16.9.2016

Perikles Simon spricht sich für ein Verbot der TUE aus. Eine Offenlegung lehnt er ab, da damit die Privatsphäre der Personen in inakzeptabler Weise betroffen wäre.

Simon: Die grundsätzliche Frage ist: Was wollen wir im Sport noch sehen? Wo ziehen wir die Grenzen bei einer Krankheit? Es ist immer noch Hochleistungssport, von dem ich und Sie und 99,9 Prozent der Menschen ausgeschlossen sind. Spitzensportler zu sein war schon immer ein exklusiver Zirkel.

ZEIT ONLINE: Offenbar sind Sportler in den vergangenen Jahren häufiger krank gewesen. Die Zahl der TUEs stieg von 636 vor drei Jahren auf 1.330 im Jahr 2015.
Simon: Es ufert gerade aus. Baseballer wollen uns glauben lassen, mit einer Aufmerksamkeitsstörung könne man einen Ball perfekt treffen und besorgen sich eine TUE. Wie kann das denn sein? Man gibt ja einem Menschen mit geringer Körpergröße auch nicht so lange Wachstumshormone bis er zum Profi-Basketballer wird. Das größte Problem ist es, dass die TUEs die Lust bei den gesunden Athleten steigert, die keine TUE brauchen, aber die gleichen Mittel haben wollen wie die Konkurrenten. Und wir wissen aus der Vergangenheit: Kommen Sportler daran, machen sie das auch. Die TUEs höhlen den Sport aus.

ZEIT Online: Sie plädieren für ein Verbot der TUEs.
Simon: Warum nicht? Die Kreativität von Ärzten und Therapeuten wird mit jeder Ausnahme steigen. Andererseits müssen wir auch so ehrlich sein und akzeptieren, dass kein TUE-System Chancengleichheit herstellen wird. So wie der Status quo ist, bin ich schon fast geneigt, für die Freigabe von allen Substanzen zu plädieren, die man zu therapeutischen Zwecken im Sport einsetzen darf. …

ZEIT ONLINE: Und was wäre dann mit dem Olympiasieger Matthias Steiner, der sich wegen Diabetes das für Sportler verbotene Insulin spritzen muss?
Simon: Bei Insulin gibt es keine Möglichkeit zu überprüfen, ob ein Sportler es nur zu therapeutischen Zwecken nimmt oder ob er seinen Trainingsablauf, seinen Ernährungsplan und seine Insulingaben nicht exakt so abstimmt, dass sie wie Doping wirken. Humaninsulin ist unter den TUE-Ausnahmen sicher das problematischste Mittel, auch weil es viele Menschen betrifft und weil gesunde Sportler kurzwirksames Humaninsulin ebenfalls missbrauchen können, ohne dass man es nachweisen könnte.

Sportler wissen in der Regel genau, was ihrem Körper fehlt. Die gesunden haben Angst, dass sie von Athleten mit TUE abgehängt werden. … Man müsste Athleten also genau die Sportart verbieten, in der sie mit TUE als einziger einen Vorteil hätten. Im genannten Beispiel [Radsport] sind das nur Sportarten mit mehrtägiger Ausdauerbelastung bis zur Erschöpfung. Und möchte man etwas mehr Chancengleichheit müsste man es entweder den gesunden Sportlern erlauben, an die gleichen Mittel zu kommen oder man verbietet TUEs. Diesen Diskurs brauchen wir jetzt.

PAUL DIMEO UND VERNER MOLLER

Paul Dimeo und Verner Møller sprechen sich dafür aus, die TUE ganz abzuschaffen. Elite sport: time to scrap the therapeutic exemption system of banned medicines, 18.12.2017:

The current policy is a compromise between not allowing too much drug use, and the hard line of a blanket no-drugs policy that would discriminate against athletes with treatable health issues. Yet, there is a range of unforeseen consequences if the drugs in question are not available to all athletes, and if there are opportunities to bend the rules. …

While the TUE system appears to be concerned about athletes’ health by allowing them to use medicines, there are some ways in which the use of such medicines is detrimental to their health. If an athlete is ill or in pain, they should rest. Drugs which mask a health problem in order to allow athletes to push themselves for the sake of sport could have an impact in the short and longer term. The over-use of painkillers can lead to addiction, as found recently in American football. Painkillers also lead to neglecting the underlying medical problem, causing long-term health issues and shortening athletes’ careers.

If a new policy saw the scrapping of TUEs, athletes might still be allowed to use a selection of over-the-counter medicines in low doses. A list of such medicines could be compiled, ensuring there was no confusion about which drugs could be taken. This would help athletes of integrity trust the system to protect them from unscrupulous athletes, doctors and coaches.

And if WADA aims to ensure a level playing field, promote the health of athletes and foster a consistent, coherent and transparent approach, then perhaps the only way forward is to prevent the abuse of TUEs is by removing them completely.

The global sports community needs to be serious about clean sport, and such a drastic solution might be necessary. Those who suffer illness might not get to compete to the same extent, but athletes would have to accept that fairness and health are good principles to follow, and accept their fate much like athletes who miss out due to broken bones or concussion.

PAUL DIMEO, velonews, , 10.1.2018:

Dr. Paul Dimeo: I think the TUE system offers an opportunity for people to use drugs that they wouldn’t otherwise be allowed to use. It’s a simple summary. What we saw from the Fancy Bears hack was there were some TUEs given that didn’t have any doctor’s signature, or maybe just one doctor’s signature. So it might not be that difficult for a doctor to make a mistake, or just do a repeat prescription for something that the athlete had showed earlier symptoms for. Or, quite simply, for the doctor to feel bribed or under pressure or just compelled to help the athlete.

Then there is the matter of the health of the athlete. The whole thing opens up the idea that medicines are not just for the health of the athlete, but they are there to get the athlete back onto the field of play. That actually allows them to play with an injury, if this substance or medicine may be given in a normal medical situation. So you could be giving an athlete a long-term risk of health by allowing them to compete with [a TUE]. I think that is extremely questionable.

It’s quite hard to tell someone that their body or mind is not good enough to be the sportsperson they want to be. That is something that all of us face who have participated in sport. If you are a soccer player you must be able to use both feet, and jump, and run fast, and score from multiple angles, and manage pressure. Some people cannot, and they reach their natural barrier mentally or physically, either with an injury or mental lapse. With the TUE system, you artificially get around those natural barriers. So ethically, where does it stand against other forms of enhancement?

YANNIS PITSILADIS et al., University of Brighton

Yannis Pitsiladis u. a. verlangen eine Reform des TUE-Systems. Sie wollen es nicht abschaffen aber einer deutlichen Revision unterwerfen. Oberstes Prinzip der TUE-Vergabe muss die Beachtung der Gesundheit der Athleten sein und nicht Anti-Doping. Make Sport Great Again: The Use and Abuse of the Therapeutic Use Exemptions Process:

On the face of it, the International Standard for TUE seems to be well developed with good attention to necessary detail. However, scratch below the surface and significant problems emerge with how the TUE process is actually carried out and enforced. For example, there may be general lack of global consensus on best evidence-based practice in sports medicine. Problems can occur because of the nonstandardized criteria for disease/injury diagnosis and treatment, such as the nonstandardized use of corticosteroids to treat musculoskeletal injuries (3), or the use of thyroid hormones to treat training-induced hypothyroidism in athletes (1). There is a need to fully embed in the TUE process the fact that medical conditions are not static but dynamic, so the TUE process should require any athlete seeking a TUE to undergo frequent medical assess-ments by an independent medical commission and protect against open-ended provision of treatment(s) for months on end when unjustified on medical grounds.

The retroactive use of TUE should only be permitted in real emergency situations when it can be demonstrated beyond reasonable doubt that the clinical situation did not exist 24 hours before the need. As currently practiced, the TUE process can be misused as a ‘‘permissive’’ doping passport alongside the current antidoping methods, such as the Athlete Biological Passport (ABP).

Therefore, to restore credibility in the TUE system, a truly independent TUE process is needed. A single independent authority should oversee TUE for a particular disorder (e.g., an independent commission mandated to ensure pathology and treatment of a medical entity such as asthma), made up of newly appointed and well-trained medical practitioners. A significant research fund also should be created exclusively to support and encourage the evolution of the TUE process. Most importantly, however, there needs to be a paradigm shift in the TUE process and practices, away from primarily political and legal processes. The TUE process should instead focus on protecting the health of the clean athlete at all costs, while the antidoping process focuses on stopping cheating. This shift will require enormous commitment by sports and exercise medicine practitioners worldwide to ensure the scientific integrity and clinical credibility of the TUE processes, while simultaneously adhering to a universally high standard of care for athletes.

Der Artikel führte zu einer Kontroverse zwischen der WADA-Experten-Gruppe und den Autoren obigen Textes: Response to the Letter to the Editor 


Monika