1991 Bericht der Unabhängigen Dopingkommission (Reiter-Kommission)

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Juni 1991 Bericht der unabhängigen Dopingkommission des DSB und NOK – kurz ‚Reiter -Kommission‘ genannt

Die Doping-Enthüllungen des Jahres 1990 mit den damit verbundenen heftigen öffentlichen und nichtöffentlichen Auseinandersetzungen auf und zwischen allen Ebenen des deutschen Sports, veranlasste DSB und NOK eine „Unabhängige Untersuchungskommission“ einzusetzen. Beschlossen wurde dies bereits vor der feierlichen Wiedervereinigungsfeier des deutschen Sports am 15. Dezember 1990. Offiziell wurde die Kommission am 24.1.1991 eingesetzt, der Abschlussbericht lag am 18.6.1991 vor.

>>> Bericht der Reiter-Kommission.pdf

Hier ein Überblick über Dopingformen, ihre Anwendungsziele, Wirkungen, Nebenwirkungen und Nachweisbarkeit aus dem Antidoping-Bericht der Bundesregierung 1994
>>> Auszug aus dem Bericht der Reiter-Kommission, Juni 1991

Die Ergebnisse blieben letztlich wage und die verfassten Empfehlungen wurden zwar diskutiert aber nur unzureichend oder garnicht umgesetzt.

Hintergrundinformationen sind hier zu finden:

>>> Wendezeit II, das Jahr 1991

Der Kommission gehörten an:

Prof. Dr. jur. Heinrich Reiter, Kassel/München
Präsident des Bundessozialgerichts, Kassel, als Vorsitzender

Prof. Dr. med. Dr. hc. Hans Erhard Bock, Tübingen
Langjähriger Präsident der Deutschen Therapiewoche

Volker Grabow, Witten
Aktivensprecher im Deutschen Sportbund

Prof. Dr. paed. Helmut Kirchgässner, Leipzig
Gründungsdekan der Fakultät Sportwissenschaft der Universität Leipzig (vormals Deutsche Hochschule fur Körperkultur)

Prof. Dr. med. Hans Kuno Kley, Singen
Chefarzt der Medizinischen Klinik des Städt. Krankenhauses Singen

Prof. Dr. phil. nat. Christiane Stang-Voss, Köln
Rektorin der Deutschen Sporthochschule, Köln

Prof. Dr. jur. George Turner, Berlin
Professor der Rechte in Berlin und Stuttgart
Senator für Wissenschaft a.D. in Berlin

Das Sekretariat führte: Ministerialrat Dr. jur. Peter Busse vom
Bundesministerium des Innern

Quelle FAZ, 20.6.1991

ZITATE:

Vorbemerkung

Der Deutsche Sport, insbesondere der Hochleistungssport, ist wegen der Dopingproblematik ins Gerede gekommen und läuft Gefahr, in seinem Ansehen Schaden zu nehmen. In zunehmendem Maße berichten die Medien über die Dopingpraxis zunächst im Beitrittsgebiet, dann aber auch in den alten Bundesländern. Die auch zunehmend in der gesamten Öffentlichkeit geführte Diskussion veranlaßte den Deutschen Sportbund (DSB) und das Nationale Olympische Komitee (NOK) – auch nach Beratung mit dem in der Bundesregierung für Fragen des Spitzensports zuständigen Bundesminister des Innern -, im Januar 1991 eine Unabhängige Kommnission einzusetzen. Deren Aufgabe war es, aufgrund der Erfahrungen aus der Vergangenheit Handlungskonzepte zur Bekämpfung des Doping in Zukunft zu entwickeln. Nicht war es ihre Aufgabe, Einzelfälle von Doping aufzuklären und dafür Sanktionsmaßnahmen den zuständigen Stellen vorzuschlagen.
….
3.2.1 Alte Bundesländer

Die Kommission geht davon aus, daß die Verantwortlichen im deutschen Sport spätestens seit 1976 Vermutungen und auch Kenntnisse vom Anabolika-Mißbrauch im deutschen Leistungssport hatten. Forderungen nach einem energischen Vorgehen wurden nur halbherzig erfüllt; insbesondere das Problem der Kontrollen in der Trainingsphase wurde zunächst nicht angegangen. Man beschränkte sich auf den Erlaß einer Vielzahl von Resolutionen und Erklärungen sowie auf andere Maßnahmen, die im nachhinein als Alibi-Vorgehen zu bezeichnen sind.

Im Ergebnis mußte die Kommission die Überzeugung gewinnen, daß auch im Gebiet der alten Bundesländer in einem Umfang von Dopingmitteln Gebrauch gemacht wurde, der ein entschiedenes Handeln der Verantwortlichen über das bereits Veranlaßte hinaus notwendig macht.

3.2.2 Gebiet der ehemaligen DDR

Die Kommission kam zu der Erkenntnis, daß im Spitzensport der ehemaligen DDR Dopingmittel

– zentralistisch verordnet und kontrolliert
– wissenschaftlich begründet und sportartspezifisch differenziert sowie
– demzufolge systematisch und umfassend

zur Erreichung sportlicher Höchstleistungen eingesetzt worden sind.

6. Bekämpfungsmaßnahmen des Dopings

Der deutsche Sport hat sich in letzter Zeit insbesondere durch die Einführung von Trainingskontrollen {out-ofcompetition} bemüht, dem Dopingproblem beizukommen. Der DSB und das NOK haben die Kommission in zwei ausführlichen und umfangreichen Dokumentationen hierüber informiert

Die Kommission ist zu dem Ergebnis gekommen, daß bei der Dopingbekämpfung nicht nur der Sportler, sondern sein ganzes Umfeld, also auch Trainer, Arzte, Funktionäre und die Öffentlichkeit mit einbezogen werden müssen, und der Schutz der Jugendlichen at~ßergewöhnliche Maßnahmen erfordert. Bei ihren Vorschlägen ist sich die Kommission der leidigen Tatsache bewußt, daß es ein das Doping vollkommen ausrottendes System von Patentrezepten nicht gibt. Die Kommission weist aber auch in diesem Zusammenhang auf die weltweite Dimension des Dopingproblems hin. Der DSB, das NOK und seine Verantwortlichen sind vor allem gegenüber ihren Spitzenathleten verpflichtet, alle ihre Möglichkeiten auszuschöpfen und alle internationalen Funktionen und Kontakte zu nutzen, auf internationaler Ebene gleiche Wettkampfchancen unter Ausschluß von Doping zu erreichen.

Besonders gejordert sind alle Funktionäre in naher Zukunft bei der Installation eines internationalen Doping-Kontroll-Systems. Die vielfachen Absichtserklärungen müssen nun endlich umgesetzt werden. So könnte z.B das IOC in Zukunft nur noch Sportarten zulassen, bei denen der zugehörige internationale Spitzenverband Dopingkontrollen mit zuvor festgelegten Quoten

durchführt. …

6.1 Dopinganalytik

Indirekte Nachweisverfahren (= Hinweise):

Hierbei werden weder das verwendete Dopingmittel als körperfremde Substanz noch seine Abbauprodukte „direkt“ nachgewiesen, sondern es werden doping-induzierte Veränderungen bestimmt.

Hierzu gehören z.B. :

a) Der Testosteron/Epitestosteron-Quotient:
Die Relation dieser beiden Steroide im Urin steigt bei Anwendung des Dopingmittels Testosteron an. Das Verfahren wurde vom IOC anerkannt (s. Anlage) und ein Grenzwert von 6 wurde festgelegt.

b) das Steroidprofil:
Nach Doping mit Testosteron/Anabolika verändert sich die Ausscheidung verschiedener körpereigener Steroide im Urin sowohl quantitativ als auch in der Relation zueinander. Dies ist bisher kein vom IOC anerkanntes Verfahren.

c) Blutveränderungen bei Blutdoping:
Bei Blutdoping (s. Anlage) finden sich gelegentlich gewisse Veränderungen in der Zusammensetzung der Blutbestandteile bzw. der Blutuntergruppen bei Einsatz von Fremdblut. Dieses Verfahren findet bisher keine Anwendung und ist kein vom IOC anerkanntes Verfahren.

d) Klinisch-medizinische Untersuchung der Athleten.
Einstichstellen bei Blutdoping, gewisse Urinmanipulationen, kurzfristige Veränderungen im Körpergewicht und Erscheinungsbild bei Anwendung von Anabolika (z.B. Vermännlichung bei Frauen mit vermehrter Behaarung, vermehrter Muskulatur, „männlichen“ Bewegungen, tiefer Stimme, unphysiologischem Leistungssprung) oder Wachstumshormon sind wichtige Hinweise, sie sollen Eingang in die Dokumentation der Untersuchung von Athleten finden. Sie müssen bei jeder sportmedizinischen Untersuchung in der Gesundheitskartei jedes Sportlers vermerkt werden.

6.3 Maßnahmen im Umfeld des Sportlers

6.3.1 Umfeld Trainer: …

Die Kontrolle der Lehrarbeil im Ausbildungs-System des DSB (vom Trainer C bis zum Trainer A) muß in jedem Spitzenverband zum Aufgabenbereich des Präsidiums gehören. Es genügt nicht, daß die Lehrarbeit hauptamtlichen Trainern oder nebenamtlichen Referenten überlassen bleibt. Der Forderung nach einer „Leitstelle Lehrarbeit“, wie von Budinger 1991 gefordert, sollte energisch Gehör verschafft werden. Darüber hinaus sollten hauptamtliche Stellen für Ausbildungskräjte in der Lehrarbeil angestrebt werden.

In die Lehrarbeit der Verbände (C- bis A-Bereich) und der Trainerakademie müssen Lehrinhalte zur Entwicklungsphysiologie, Endokrinologie von Mann und Frau sowie zur Pharmakologie des Doping aufgenommen werden.

6.3.2 Umfeld Funktionäre: …

Es ist anzustreben, daß zumindest die größeren Fachverbände hauptamtliche Sportdirektoren einsetzen, die im Rahmen von Vorgaben der Leitungsinstanz eigenverantwortlich den Bereich Leistungssport organisieren, um dann in größeren zeitlichen Abständen den Präsidien Rechenschaft zu geben. Diesen hauptamtlichen Sportdirektoren ist als Dienstpflicht die Bekämpfung des Doping zuzuweisen. Bei Verstößen können sie zur Rechenschaß gezogen werden.

6.3.3 Umfeld Sportmedizin: …

Ein Arzt der bei Dopingverstößen mitwirkt, verstößt u.v. gegen das Strafrecht, setzt sich möglicherweise zivilrechtlichen Ansprüchen aus, handelt gegen das Arzneimittel-, das Kassenarztrecht und auch gegen die ärztliche Berufsordnung. Der rechtliche Rahmen zur Bekämpfung des Doping

durch Ärzte ist ausreichend. Allerdings sind bisher die Standesvertretungen erst nach Abschluß eines Strafverfahrens tätig geworden. Die Ärztekammern sollten bei gravierenden Dopingfällen von sich aus in Aktion treten.

Empfehlungen:

1. Schaffung eines Regelwerkes für die ärztliche Betreuung von Sportlern unter dem besonderen Aspekt der Vermeidung von Dopingfällen, wie z. B.:

Strenge Dokumentation der applizierten Medikamente für jeden Sportler in der Hand eines Arztes nach einer sorgfältigen Arzneianamnese. Vervollständigung der Inspektion, Untersuchung und Dokumentation bezüglich Doping (Dopingverdachtssymptomliste), möglichst durch einen Arzt über einen längeren Zeitraum.

2. Nicht nur leistungs-. sondern auch geschlechts- und altersspezifische Betreuung von Sportlern durch entsprechend ausgebildete Ärzte.

3. Ärztliche Nachsorge auch nach Aufgabe des Leistungssports.

6.4 Soziale Betreuung der Athleten

Der Kommission erscheint eine weitere Verbesserung der sozialen Betreuung der Spitzensportler unerläßlich, das Angewiesensein aufsportliche Höchstleistungen muß für den Spitzenathleten reduziert werden.

8. Vergangenheitsbewältigung

Bei aller Problematik einer Amnestie generell und ohne moralische Billigung schlägt die Kommission auch unter Berücksichtigung der durch die Vereinigung entstandenen Probleme im Interesse eines ehrlichen Neubeginns für die Sportler eine Generalamnestie infolgender Weise vor:

Die Spitzenverbände legen in Abstimmung mit dem DSB einen einheitlichen Stichtag fest (nicht vor dem 1.1.1991). Dopingvergehen in dem davorliegcnden Zeitraum werden hinsichtlich der Sportler nicht mehr weiter verfolgt und geahndet. Inwieweit sich das mit dem Regelwerk des jeweiligen intemationalen Fachverbandes bzw. des IOC vereinbaren läßt, bleibt im Einzelfall zu überprüfen. Eine entsprechende Regelung ist international anzustreben.

Für Trainer. Arzte, Funktionäre und sonstige Beteiligte darfes keine generelle Amnestie geben. Dabei verkennt die Kommission nicht. daß diejenigen aus diesem Kreis. die aus dem Gebiet der früheren DDR kommen, oft unmittelbarem oder mittelbarem Zwang ausgesetzt waren, Dopingmittel anzuwenden.

Es sollte deshalb bei solchen Gegebenheiten im Einzelfall geprüft werden, ob Beteiligte die Chance einer Wiedereingliederung in den Sport erhalten sollten. Unvertretbar ist es, ohne Prüfung im Einzelfall in Betracht kommende Personen in neue Funktionen zu übernehmen.

Unabdingbare Voraussetzung dafür muss aber die Überzeugung sein. daß die Gewähr für korrektes Verhalten in Zukunft gegeben ist. Sollten derart Beteiligte auch für die Zusammenarbeit mit Jugendlichen vorgesehen sein, müßten die Anforderungen an die Prognose für deren Zuverlässigkeit im Interesse des unbedingt notwendigen Schutzes des Nachwuchses außergewöhnlich hoch sein und mit strengsten Maßstäben geprüft werden.