1977 Werner Franke: Anabolika im Sport

Doping in der BRD 1970er Jahre

Werner Franke: Anabolika im Sport

Am 22. April 1977 erschien in der Medical Tribune, Ausgabe Österreich, Jahrgang 9, Nr. 16 ein Gastkommentar von Prof. Dr. Werner Franke, Professor am Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg, Abt. für Membranbiologie und Biochemie, Institut für experimentelle Pathologie. Darin prangerte er die Haltung einiger Sportmediziner an, die in den vergangenen Jahren die Nebenwirkungen von Anabolika verharmlost hatten.

Mit diesem Kommentar erregte Werner Franke großes Aufsehen und vor allem Widerspruch bei bekannten Sportmedizinern. Prof. Keul und Dr. Kindermann, beide Universität Freiburg, fühlten sich zu Unrecht an den Pranger gestellt und antworteten im August in der Medical Tribune, Ausgabe Deutschland. Die Antwort kann in Auszügen hier nachgelesen werden:

>>> Zwei Sportmediziner: Wir fühlen uns diffamiert

Werner Franke erteilte die Erlaubnis zur Veröffentlichung seines Artikels – Danke!

Anabolika im Sport
Der Arzt als Erfüllungsgehilfe des Sportfunktionärs
Leichtfertige Verniedlichung von Nebenwirkungen

In der in der Öffentlichkeit anhaltenden Diskussion um das Ausmaß und die Bewertung der Verabreichung von anabolen Steroidhormonen an Sportler und Sportlerinnen (Medical Tribune Nr. 13, 1977) ist der Arzt und der in der medizinisch-biologischen Forschung tätige Wissenschaftler in zweierlei Hinsicht zu einer deutlichen Stellungnahme aufgerufen. Da ist einmal das Selbstverständnis des Arztes bzw. des Wissenschaftlers mit dem Ansinnen einiger Kreise unserer Gesellschaft konfrontiert, hormonelle Medikamente für irgendwelche außermedizinischen Zwecke zu verschreiben und zu entwickeln. Zum anderen gilt es, einer breit angelegten Kampagne zur Popularisierung dieser Praktiken entgegenzutreten, bei der die bekannten wie die möglichen Nebenwirkungen dieser Mittel leichtfertig verharmlost werden.

Obszön!

Nach Ansicht einer kleinen, in einigen Sportverbänden aber einflußreichen Gruppe von Sportmedizinern, angeführt von Prof. Dr. J. Keul (Freiburg) und Prof. Dr. W. Hollmann (Köln), sollten gesunden Menschen – lediglich auf ihren Wunsch hin – zum Zweck der sportlichen Leistungssteigerung androgene-anabole Steroidpräparate verabreicht werden, ohne jede medizinische Indikation, ohne jede angemessene Güterabwägung und gegen die Regeln der olympischen Sportarten selbst, in denen diese Präparate als Dopingmittel eingestuft und verboten sind. Hier degradieren sich Ärzte offensichtlich nicht nur zu „Gefälligkeitsverschreibern“, sondern sie machen sich auch noch zu Helfern und Helfershelfern eines Betruges, eines Verstoßes gegen die – ironischerweise z. T. unter Beteiligung eben dieser Mediziner ausgearbeiteten – Regeln. Wie von Dr. B. Segesser (Basel) in seinem Beitrag ja schon angedeutet wurde, sehen einige dieser Sportmediziner sogar ihre Aufgabe darin, den Athleten Kenntnisse über die jeweiligen Dopingkontrollen und ihre Erfassungsmöglichkeiten zukommen zu lassen, so daß sie umgangen werden können, u. U. auch durch „Überbrückung“ mit reinem Testosteron (vgl. dazu auch die haarsträubenden, offenen Bekenntnisse des Vize-Europameisters im 200-m-Sprint, Manfred Ommer, in der WELT vom 15. 3. 1977). Diese – wahrscheinlich aus dem Wunsch nach (indirektem) Teilhaben am sportlichen Erfolg zu verstehende – Selbstdegradierung zum Betrugskomplizen hat nun wirklich mit „Heilkunst“ nichts mehr zu tun und sollte die entschiedene Mißbilligung des Ärztestandes wie der Wissenschaft erfahren. Prof. Dr. H. Reindell, Nestor der deutschen Sportmedizin und Präsidentdes deutschen Sportärzteverbandes, erklärte denn auch kürzlich: „Wer die Einnahme von Anabolika befürwortet, ist kein Arzt mehr!“ Ein Satz, der hoffentlich auch von seinen früheren Schülern gehört und beherzigt wird! Prof. T. B. Schwartz (Chicago) fand in einem Kommentar der neuesten Ausgabe des von ihm herausgegebenen Jahrbuchs der Endokrinologie nur noch eine Bezeichnung für die Gabe von Anabolika im Sport: „Obszön!“

Besonders bedenklich scheint aber in diesem Zusammenhang die von den Befürwortern und Praktikern des Dopings mit Anabolika systematisch wiederholte Behauptung von der medizinischen Unbedenklichkeit dieser Präparate zu sein, eine Behauptung, die eben auch durch stereotype Wiederholung nicht richtiger wird. Die einschlägigen pharmakologischen Standardwerke (stellvertretend seien hier nur genannt: The United States Dispensatory, Meyler’s Side Effects of Drugs, Marlindale – The Extra Pharmacopoeia, The Pharmacological Basis of Therapeutics) weisen über viele Seiten auf negative Nebenwirkungen hin. Dabei ist bei einer Wertung der Nebenwirkungen im Falle des Einsatzes bei gesunden Personen natürlich mit besonderer Strenge davon auszugehen, daß hier eben keine medizinische, nicht einmal eine zwingende psychische oder soziale Indikation vorliegt. Da also bei der Medikation hier kein medizinisch relevanter Nutzen zu erwarten ist, bleibt nur mehr das Risiko der Behandlung zu diskutieren. Nun sind aber Steroidhormone keine Zuckerstangen! Von den vielen in der Literatur behandelten Nebenwirkungen, darunter auch solche, die bei Sportlern festgestellt wurden (darunter auch „kleinere“ Nebenwirkungen; vgl. z.B. D. I. J. Freed et al., Br. Med. J., 1975, 2. 471), seien hier nur einige etwas ausführlicher erwähnt und besprochen.

1. Funktionsstörungen und Schädigungen der Leber

Aus medizinischer Sicht muß auf das Schärfste gegendie Bagatellisierung der Cholestase und der Hemmung der Exkretion und Sekretion protestiert werden, die nach Gabe – z.T. auch bei recht geringen Dosen von C3-Keto- und besonders nach CI7-α-alkylierten Androgenen auftritt. Wie hier die Praxis des Spitzensports in der Bundesrepublik aussieht, mag man vielleicht aus einer Bemerkung in einer (im übrigen methodologisch recht insuffizienten) Untersuchung der Freiburger Sportmediziner selbst ersehen, die z. B. bei einer „Zufallsprobe“ von 57 Sportlern, die zugaben, Anabolika genommen zu haben, folgenden Befund erhoben: „Schädigung bzw. Funktionsstörungen wurden bei 31 Sportlern nach oral verabreichten Steroiden beobachtet“ (J. Keul, B. Deus und W. Kindermann, Med. Klin. 71, 497, 1976). Fürwahr, eine groteske Art von Sport: 54% einer Stichprobe von Anabolika-Abhängigen sind krank, mit bis zu 2,6 mg % Bilirubin und Transaminasen bis zum Zehnfachen des oberen Normbereiches! Aus dem Rückgang dieser Werte nach Absetzen der Präparate binnen einiger Wochen wird dann (leider ein weitverbreiteter Euphemismus!) geschlossen, „daß es sich wahrscheinlich (1) um eine reversible Funktionsstörung der Leber gehandelt hat“. Die weitverbreitete Leichtfertigkeit im zyklischen An- und Absetzen von Anabolika bei Sportlern wie bei der Interpretation der beobachteten, aber völlig unzureichend analysierten Hepatozyten-Läsionen ist fachlich abzulehnen. Wenn nach einem begrenzten Waldbrand kein Rauch mehr zu sehen ist, würde wohl nur ein Narr auf eine Reversibilität des Feuerschadens schließen!

Grob fahrlässig

Eine arzneimittelbedingte Cholestase ist durchaus sehr ernst zu nehmen, und kein Sportmediziner sollte sich einbilden, solche – häufig auch individuell sehr verschiedenen – Pathogenesen „steuern“ zu können bzw. allein aus schlichten Routine-Labordaten das Ausmaß der zellulären Schäden mit Sicherheit abschätzen zu können. Wer derartige Präparate an gesunde Personen verabreicht, dem gehört wirklich der Satz von Prof. H. Popper (New York) ins Stammbuch geschrieben: „Längerdauernde Cholestase extra- und intrahepatischer Ursache bewirkt Leberzelldegeneration und -nekrose!“ Das Herbeiführen einer Cholestase oder Exkretionsstörung aus „sportlicher Indikation“ ist somit als grob fahrlässig anzusehen. Dies um so mehr, als nicht nur der durch Steroide herbeigeführte cholestalische Zustand – durch den Detergenz-Effekt der Gallensäuren – sondern möglicherweise auch die direkte Interaktion einiger dieser Steroide mit der Plasmamembran bzw. dem endoplasmatischen Retikulum zur Schädigung von Membranstrukturen und -funktionen (bis hin zur Membranolyse) beiträgt (vgl. z. B. die Anthologie „Pathogenesis and Mechanisms of Liver Cell Necrosis“, ed. D. Keppler, MTP Press Ltd., 1975). Die Interferenz solcher Steroide mit den Hydroxylierungs- und Demethylierungssystemen der Leber allein sollte einen schon davon abhalten, ohne Not mit Steroiden im Organismus „herumzufummeln“. Ganz zu schweigen von den Problemen und Komplikationen, die sich für Anabolika-Konsumenten etwa bei starkem Alkohol-Konsum (das ist bei einigen Sportlern ja nicht gerade selten!), bei plötzlich erforderlicher Medikation (z. B. mit bestimmten Antibiotika) mit hepatotoxischen Substanzen, bei einer Narkose-Behandlung etc. ergeben. Hier wird der Sportarzt wohl kaum immer in der Nähe aller potentiell Gefährdeten sein können, und einen „Anaboliker-Paß“ gibt es ja wohl noch nicht!

2. Verdacht auf Beteiligung von androgen-anabolen Hormonen bei der Entstehung von Hepatomen und Peliosis hepalis

In den letzten Jahren hat sich der Verdacht gebildet, bestimmte hormonelle Komponenten könnten zur Entstehung von benignen und malignen Hepatomen sowie der (aus gutem Grund damit vielfach im Zusammenhang diskutierten) eigentlich seltenen Peliosis hepatis beitragen (Übersichten z. B. bei S. Goldfarb, Cancer Res. 36,2584.1976; F. L.Johnson, in: Hepatocellular Carcinoma, K. Okuda and R. l. Peters, eds.; Wiley & Sons, New Vork). Diese Befürchtung stützt sich keineswegs nur auf Fälle bei der Androgen-Therapie von schweren Grundkrankheiten anämischer Natur, sondern auch auf Beispiele aus der Therapie von z. B. Osteoporosen, Kryptorchismus, Pankreatitis, Ilypopituitarismus etc. Besonders eigentümlich muten hier Angaben über eine direkte Androgen-Abhängigkeit des Tumorwachstums in einigen dieser Fälle an. Die ganze Problematik scheint ferner in einem interessanten Zusammenhang mit Berichten über gehäuftes Auftreten von Hepatomen und Peliosis hepatis nach langjähriger Einnahme bestimmter Kontrazeptiva zu stehen, über die ja auch in dieser Zeitschrift schon berichtet worden ist. Und nicht zuletzt ist es eine alte Erfahrung aus Tierversuchen, daß ein androgenes Hormonmilieu die Entwicklung bestimmter Hepatome fördern kann. Bezeichnenderweise fallen ja auch die androgen-anabolen Progestagengen-Komponenten einiger Kontrazeptiva (Norethynodrel, Norethisteron) im Tierversuch durch hohe Hepatombildungsrate, und zwar vor allem bei männlichen Tieren (!), auf (vgl. die entsprechende Studie des britischen Committee on Safety of Medicines, 1972). Der Ernst, mit dem diese Thematik z. B., in der medizinischen Wissenschaft behandelt wird, durchaus auch im Zusammenhang mit der unter Steroid-Gaben gestörten Exkretion (s. o.), sollte einige der oben erwähnten Sportmediziner doch verstummen lassen. Jedenfalls geben mehrere der damit befaßten Nicht-Sport-Mediziner öffentlich den ausdrücklichen Rat, androgene-anabole Hormonpräparate nicht ohne strenge Indikation einzusetzen, schon gar nicht im Sport. Die bekanntermaßen langen Entwicklungszeiten solcher Hepatome und auch die gerade begonnenen langfristigen Tierversuchsreihen (z. B. im Deutschen Krebsforschungszentrum) lassen übrigens eine Klärung dieser Frage in den nächsten Jahren noch nicht erwarten.

3. Antigonadotrope Wirkungen

Pauschale Bemerkungen, die androgene-anabole Hormonpräparate von Nebenwirkungen auf Hypophysenfunktion, Funktionen der Sertoli-Zellen, der Leydig-Zellen und des Epididymisepithels, auf Spermata- und Spermiogenese „freisprechen“ wollen (vgl. Med. Tribune Nr. 12), können fachlich nicht ernst genommen werden. Die z. Z, immer noch sehr häufig an Sportler verabreichten 17-α-alkylierten Androgene haben allesamt eine solche inhibierende Wirkung (Übersicht z. B. bei H. Jackson and A. R. Jones, in: Adv. Steroid Biochem. „harrnacol., pp. 167, 1972). In ihrer jüngsten eingehenden Untersuchung fanden P. Halma und H. Adlercreutz (Acta endocrin. 83, 856, 1976) nach Verabreichung von nur 15 mg Metandienon (syn. Metandrostenolon) an finnische Athleten im Plasma eine Abnahme des Testosterons um 69 % und des LH und FSH um je 50 %. Das entspricht auch Beobachtungen anderer Autoren bei Vergabe von höheren Tagesdosen (z. B. Kilshawet al., Clin. Endocrinol. 4, 536, 1975; Hervey et al.. Lancel 1976, 2. 699). Die einzige Androgen-Verbindung, für die eine erstaunlich geringe antigonadotrope Wirkung (nur ca. 23 % Senkung des Plasma-Testosterons) als hinreichend gesichert gelten kann, ist Mesterolon, das jedoch nur bescheidene anabole Effekte aufweist. Selbst bei den Metenolon-Estern sind in diesem Punkt noch Abstriche in der Qualität der Literaturbelege zu machen. Das Fehlen solider Langzeit-Untersuchungen auf diesem Gebiet wird in der pharmakologischen Literatur ausdrücklich bemängelt.

4. Negative Effekte auf den Thymus

Androgene haben allgemein einen hemmenden Effekt auf den Thyrnos, insbesondere führen sie zu einer Verkümmerung des epithelialen Retikulums. Die nicht selten beobachtete Anfälligkeit von Athleten bestimmter Kraftsportarten gegenüber Infekten könnte hier durchaus ihre Ursache haben. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieses Aspekts fordern Fachleute systematische Untersuchung der Wirkung androgener-anaboler Präparate auf die Thymusfunktion von Sportlern (70. B. J. Ahlqvist, Acta endocrinol. suppl. 206, 1976).

5. Virilisierungserscheinungen bei Frauen und Mädchen

Die allseits bekannten, z.T. drastischen und irreversiblen Virilisierungserscheinungen, die bei Verabreichung androgen-anaboler Präparate an Frauen und Mädchen beobachtet, in jedem Falle aber riskiert werden, erfordern auch im klinischen Bereich eine Beschränkung auf streng gestellte Indikation. Daß es Sportmediziner gibt, die auch hier verharmlosen und diese Effekte als „soziale“ Probleme versieben („im Osten kommen Frauen auch mit tiefen Stimmen durch den Alltag“) wie Dr. W. Kindermann (Freiburg) und Dr. A. Mader (Köln) kann beim verantwortungsbewußten Arzt und Wissenschaftler nur noch Kopfschütteln erregen, mehr nicht.

Verharmlosungskampagne

Diese Reihe der ernstzunehmenden, schädlichen Nebenwirkungen ließe sich leicht noch um ein Dutzend fortsetzen. Aber das Vorstehende mag auch so bereits ausreichen, um die Verharmlosungskampagne der Anabolika-Verabreichung an Sportler als das zu entlarven, was es letztlich ist, eine fachlich nicht haltbare Propaganda-Aktion. Daß in der Tat bei einigen der von Sportmedizinern durchgeführten Untersuchungen keine oder nur geringe Nebenwirkungen gefunden wurden, überrascht bei näherer Betrachtung dieser Arbeiten kaum. Hier gilt einmal mehr die alte Waldbauern-Regel: Wer im Buchenwald sucht, darf sich nicht wundern, wenn er keine Eicheln findet! Auch das häufig von dieser Seite der Sportmedizin gebrauchte Argument, sie seien ja gewissermaßen aus Verantwortung gezwungen, dem Athleten diese Mittel zu geben, weil er sonst Selbstmedikation betreibe, ist nicht stichhaltig. Erstens verhindert der Sportmediziner dadurch nicht notwendigerweise die zusätzliche Einnahme von Überdosen durch den Athleten; zweitens kann ein aufrechter Arzt sich doch wohl kaum in so plumper Weise nötigen lassen. Wenn man diese Art von Logik generell in der Medizin anwenden würde!