Doping: Keul, Joseph – Gutachten Singler/Treutlein

Historie west- und gesamtdeutscher Sportärzte

Joseph Keul: Wissenschaftskultur, Doping und Forschung zur pharmakologischen Leistungssteigerung

Am 20.3.2017 veröffentlichte die Universität Freiburg gegen den Willen Andreas Singlers, einer der Autoren, das Gutachten über Prof. Josef Keul, das ursprünglich im Rahmen des Arbeitsauftrags der Evaluierungskommission Freiburger Sportmedizin erstellt wurde. A. Singler selbst hatte zuvor das Gutachten privat Medienvertretern zur Verfügung gestellt.

Andreas Singler/Gerhard Treutlein: „Joseph Keul: Wissenschaftskultur, Doping und Forschung zur pharmakologischen Leistungssteigerung“

Im Folgenden zitiere ich aus den Schlussbemerkungen.

Schlussbemerkungen, S. 358ff

… 
Keul begann seine Karriere als Sportmediziner mit Publikationen und Vorträgen zum Thema Doping, die zumindest vordergründig eine klare Haltung gegen pharmakologische Leistungssteigerungen – mit den damals üblichen „Weckaminen“ – erkennbar werden ließen (vgl. Gutachten zu Herbert Reindell, Singler und Treutlein 2014). Erst mit der immer weiteren Verbreitung der anabolen Steroide, die bereits im Verlauf der 1960er Jahre sichtbar wurde (vgl. Berendonk 1977, erstmals 1969; Singler und Treutlein 2010a), hat Keul sein Verhältnis zu leistungssteigernden Pharmaka auffällig verändert. Keul, der bereits vor der Gründung der Abteilung und des Lehrstuhls Sport- und Leistungsmedizin an der Universität Freiburg Forschung zum Komplex der pharmakologischen Leistungssteigerung betrieben hatte, brachte sich zwar zumeist nicht direkt als Befürworter ins Spiel. Ihm scheint nämlich durchaus die Problematik der Unverträglichkeit solcher Plädoyers mit der ärztlichen Berufsethik bewusst gewesen zu sein.

Keul bekannte sich auch nicht offen zu den von ihm zumindest in Einzelfällen vorgenommenen Anabolikamedikationen bei Hammerwerfern. Aber seine positive Haltung in Bezug auf die effektivsten Dopingmittel in der Sportgeschichte überhaupt, die anabolen Steroide nämlich, war unverkennbar. Und die medizinischen Unbedenklichkeitserklärungen in Bezug auf Anabolika seit Beginn der 1970er Jahre, die Keul unter Berufung auf ein vermeintliches wissenschaftliches Rationalitätsmonopol abgab, waren genau das, was das Dopingsystem der Bundesrepublik benötigte. Ohne diese Erklärungen hätte der Sport für sein systematisches Doping von der Politik nicht jene Rückendeckung erhalten, die für das in einigen Sportarten vermutlich flächendeckende Doping notwendig war. Das wissenschaftliche Rationalitätsmonopol war Keul vom Sport, der Politik, den Medien und nicht zuletzt von ihm selbst zugeschrieben worden.

Gutachten S. 185f:
7.3.1.1 BMI-Kenntnisse zum Anabolika-Abusus 1976
Eine Bundesregierung, die pharmakologische Manipulation von sportlichen Spitzenleistungen hätte unterbinden wollen, hätte ausreichende Informationen besessen, um diesen Praktiken frühzeitig einen Riegel vorzuschieben. Joseph Keul informierte nämlich 1976 das BMI eher beiläufig und im Stil einer Selbstverständlichkeit über offenkundig verbreiteten Anabolikakonsum bei bundesdeutschen Leichtathleten. Seinen Ausführungen war geradezu Sensationelles zu entnehmen: Dass womöglich hunderte Topathleten im Rahmen der jährlich zweimal vorzunehmenden Reihenuntersuchungen gezielt auf gesundheitliche Risiken eines Anabolikamissbrauchs hin untersucht wurden. Damit war zugleich gesagt, dass womöglich hunderte Sportler alleine unter den Leichtathleten Anabolikamissbrauch betrieben haben könnten. Insofern war also das Doping mit anabolen Steroiden als Massenphänomen des deutschen Spitzensports in Freiburg bei Keul bekannt, und über ihn wurde es vor den Olympischen Spielen in Montreal auch der Bundesregierung bzw. der Sportabteilung im BMI mitgeteilt, wie der Fund des nachfolgend zitierten Schlüsseldokuments westdeutscher Manipulationsgeschichte zeigt: …

Doping fand in der Bundesrepublik zumindest phasenweise mit vollem Wissen der Bundesregierung zw. der für den Spitzensport zuständigen Abteilung im Bundesministerium des Innern statt. Dort war man im Vorfeld der Olympischen Spiele von Montreal 1976 von Keul zumindest in Ausschnitten relativ genau über die Existenz von Anabolikadoping unterrichtet worden, nämlich im Bereich der Leichtathletik. Mit dem Fund des dieser Aussage zugrundeliegenden Schlüsseldokuments125 durch die Evaluierungskommission erhält das Doping in der Bundesrepublik eine Dimension, die nun endgültig nicht mehr nur verharmlosend und irreführend als individuelle Devianz marginalisiert werden kann. Das Doping im Westen war auf seine spezifische Weise systematisch, denn es war Doping mit System, wie es für demokratische Gesellschaften typisch ist (vgl. zum „Doping in demokratischen Gesellschaftssystemen“ Singler und Treutlein 2007). Soziologisch ist es als System organisierter Unverantwortlichkeit zu beschreiben. Ausgenommen von systematisch erzeugten Unverantwortlichkeiten sind nur die letztlich als alleinverantwortlich gebrandmarkten Athletinnen und Athleten: Sie hatten ein kollektiv erzeugtes Phänomen entweder in Form von Sperren und öffentlicher Demütigung auszubaden oder haben die Folgen in Form von gesundheitlichen Schäden zu tragen, die mitunter erst Jahrzehnte später die Unbedenklichkeitserklärungen der sportmedizinischen Spitzensportberatung Lügen strafen. Dass sie vom Doping häufig ökonomisch profitiert haben mochten und sie mit Doping ihren sozialen Status verbessern konnten, steht dieser Feststellung nicht entgegen.

Aus dem Gutachten:
3.4.1 Internationale Warnungen vor schädlichen Nebenwirkungen von anabolen Steroiden bis 1976, S. 49ff:
„Dass Keul und Kollegen aber angesichts der eindrucksvollen Warnungen insbesondere USamerikanischerKollegen ebenso bei den hochgradig eklatanten Nebenwirkungen der alkylierten, oral einzunehmenden und über die Leber abgebauten Anabolika von wahrscheinlicher Reversibilität (dies., ebd.) sprechen konnten und somit auch für diese einen annehmbaren Abusus skizzierten, sofern dieser nämlich unter ärztlicher Kontrolle und – was immer das heißen mochte – niedrig dosiert stattfinden würde, ließ viele Kollegen schon damals ratlos, zumeist aber aus falsch verstandener standestypischer Solidarität auch schweigend zurück (zur dezidierten Kritik an Keul und Kollegen durch den Molekularbiologen Werner W. Franke in diesem Zusammenhang (vgl. Franke 1977).“

Keul selbst sind eigenhändige Verabreichungen von Dopingmitteln, etwa in Form von ausgestellten Rezepten für Anabolika, nur in wenigen Einzelfällen nachzuweisen. Diese betreffen zwei bundesdeutsche Hammerwerfer und berühren den Zeitraum bis 1976, wobei im Deutschen Leichtathletik-Verband und im Weltverband IAAF Anabolika bereits seit Anfang der 1970er Jahre als verbotene Mittel klassifiziert waren. Keul verstieß dabei als verbandsärztlich tätiger Mediziner der Leichtathleten gegen das Dopingreglement des Verbandes, dessen Normen zu schützen er eigentlich verpflichtet war. Zudem griff er in der Frühzeit der Anabolikakontrollen die Regeln des Verbandes frontal an, indem er in Teamsitzungen auf Dopingkontrollen hinwies und aktiv Anabolika konsumierende Athleten dazu aufforderte, diese rechtzeitig abzusetzen. Dass er dies im Beisein des amtierenden Verbandspräsidenten August Kirsch tat, der zugleich Direktor des Bundesinstituts für Sportwissenschaft war, zeigt, dass Keul sich nicht als Einzelperson dopingbegünstigend verhielt, sondern als Teil einer einflussreichen, die Geschicke des deutschen Sports maßgeblich mitbestimmenden Subkultur, die offiziell nicht erlauben durfte, was sie inoffiziell förderte, wenn nicht sogar forderte.

Eine erste Zäsur im dopingbegünstigenden Wirken Keuls ist in der Zeit der weitreichenden Manipulationsdebatte im Anschluss an die Olympischen Spiele von Montreal 1976 festzustellen. Keul erntete so viel Kritik, dass er fortan mit aktiven Beiträgen zum Doping bei westdeutschen Spitzenathleten sehr viel vorsichtiger wurde. Von einer arbeitsteiligen Organisation des bundesdeutschen Dopings, bei der Keul mit seiner Abteilung die Rolle des Gesundheitskontrolleurs übernahm, der Leber- oder Blutfettwerte bestimmte, um so ein vermeintlich risikoloses oder wenigstens risikoreduziertes Anabolikadoping westdeutscher Athleten verbürgen zu können, ist zumindest bei einigen vertraglich mit der Abteilung verbundenen Sportarten oder Disziplingruppen auszugehen. Ihre Dopingmittel erhielten Athleten dann – man darf sagen: massenhaft – in der ab 1976 sektionsartigen und ab 1982 abteilungsähnlichen sporttraumatologischen Einrichtung von Armin Klümper (vgl. dazu Zeitzeugeninterview Alwin Wagner; Singler und Treutlein 2015). Auch scheint Keul in Bezug auf die dopingmethodische Technik des Testosteronmissbrauchs als Überbrückungsdoping nach Einführung von Anabolikakontrollen im Wettkampf beratend tätig gewesen zu sein (FAZ, 02.02.2009).

doping-archiv.de: Olympische Spiele Montreal 1976

doping-archiv.de: 1970er Jahre Dopingdebatte

aus dem Gutachten: 7.3.4.1 Joseph Keul und die „Kolbe-Spritze“, S. 210ff

Die Manipulationsdebatte nach Montreal schadete nicht nur Keuls Ruf, sie war auch dem Ruf des Spitzensports in der Bundesrepublik insgesamt enorm abträglich. War die Bundesregierung nach einer vor TV-Kameras getätigten und vor einem Millionenpublikum in der ARD im Oktober 1976 reproduzierten Aussage ihrer Sportabteilungsleitung noch bereit, pharmakologische Maßnahmen zur Leistungssteigerung zu akzeptieren, so ließ sich dieses Ja zum Doping bzw. zu (noch) nicht verbotenen pharmakologischen Interventionen in vermeintlich gesundheitsverträglichen Formen und Dosierungen einige Monate später schon nicht mehr aufrechterhalten – jedenfalls nicht offen. … Manipulationsmaßnahmen wurden nun in weitaus höherem Maße als bisher der Sphäre der Heimlichkeit überstellt, die durch Schweigen dazu, besser noch: durch systematisch zu produzierendes Nichtwissen abzustützen war.

Keul machte zweifellos nach der für ihn enorm schädlichen Doping- und Manipulationsdebatte um die Vorkommnisse in Montreal nach 1976 eine Entwicklung durch. Bei den Olympischen Spielen war er in die peinliche „Aktion Luftklistier“ eingebunden gewesen, mit der Schwimmern zur Verbesserung der Wasserlage Luft in den Darm gepumpt worden war. Und vor allem setzte er mit dem ausdrücklichen Ziel der Leistungssteigerung Olympiateilnehmern in Montreal die später sogenannte, nicht explizit sportrechtlich als Doping verbotene „Kolbe-Spritze“ (Berolase/Thioctacid). Das Berufsgericht für Ärzte in Freiburg wertete dies 1992 als Dopingmaßnahme, denn aus ärztlicher Sicht ist – so die Kammer – jede Form medizinisch nicht indizierter pharmakologischer Intervention Doping.

Bei Keul können ab 1977 Verhaltensänderungen festgestellt werden, die er aus Vorsicht und zum Zweck einer künftigen Immunisierung gegen die heftigen öffentlichen und sportinternen Vorwürfe vornahm, wie er sie nach Montreal 1976 erfahren hatte – auch NOK-Präsident Willi Daume schien zeitweise an der ethischen Solidität der von Keul vertretenen Freiburger Sportmedizin zu zweifeln. …

Jedoch, wie immer wieder bis in die 1990er Jahre hinein Aussagen von ihm nahelegen, war er subjektiv von der Harmlosigkeit von Anabolika unter ärztlicher Kontrolle und in sogenannten therapeutischen Dosierungen auch weiter überzeugt. …

7.3.7.1 Management eines Testosteron-Doping-Falls 1983 und mutmaßliche anabolikagestützte Olympiavorbereitung 1984 unter Aufsicht Keuls und Donikes
1983 wurde ein bundesdeutscher Leichtathlet durch eine bei den Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften in Braunschweig vorgenommene Dopingkontrolle der Einnahme von Testosteron überführt. … Der Athlet bestritt zumindest nach Aktenlage nicht die Testosteroneinnahme, konnte aber wegen der vom Leichtathletik-Verband IAAF noch nicht veröffentlichten Grenzwerte des Quotienten Testosteron/Epistestosteron (TE-Quotient) nicht offiziell gesperrt werden.
In der Folge wurde unter Leitung von Joseph Keul und dem Kölner Dopinganalytiker Manfred Donike bei dem Sportler über Jahre hinweg das Testosteron-Abbauverhalten überprüft. Dabei war den beiden obersten deutschen Dopingbekämpfern laut Akten auch bekannt, dass der Athlet über genuines Testosteron hinaus auch synthetische Anabolika eingenommenhatte. Eingedenk dieser Tatsache ist es ein Skandal von historisch fast einmaligem Ausmaß, dass der Sportler von höchster Stelle wissenschaftlich begleitet 1983 bei den Weltmeisterschaften in Helsinki und 1984 bei den Olympischen Spielen in Los Angeles mit beträchtlichem Erfolg teilnehmen konnte. Da der Sportler bei den Olympischen Spielen einen TEQuotienten von gerade so unter 6 aufzuweisen hatte, drängt sich der Verdacht auf, dass er – und mit ihm womöglich auch weitere Disziplinkollegen – systematisch auf die Testosteronkontrollen in Los Angeles eingestellt wurden. (S. 242 ff)

Das beste Beispiel für die Unglaubwürdigkeit und Doppelmoral, mit der Keul in der Dopingfrage agierte, bieten die Ereignisse vor den Olympischen Spielen 1984. Zum einen war da der Fall des zu den Spielen nicht zugelassenen Bahnradsportlers Gerhard Strittmatter, der wegen einer angeblichen Knochenfissur nach einem Sturz von Klümper mit dem monatelang nachweisbaren Depotpräparat Primobolan behandelt worden war. Damit hatte der Athlet sportrechtlich, da er gleichzeitig an Wettkämpfen teilnahm, als gedopt zu gelten (vgl. zum Fall Klümper/Strittmatter Singler und Treutlein 2015), und Keul stellte Klümper mit seiner Kritik an dessen Behandlungsmethode öffentlich bloß. Zugleich aber führte Keul einen anderen Athleten, dessen Anabolikadoping ihm nach Aktenlage vertraut war, im Rahmen von wissenschaftlichen Langzeitversuchen zum Testosteronverhalten gemeinsam mit dem Dopinganalytiker Manfred Donike zu internationalen Wettkämpfen, ohne dass der Athlet für sein aktenkundiges Doping belangt worden wäre. Dies zeigt, dass nicht die Sorge um die Integrität der Athleten oder des Wettbewerbs Keul zur Kritik an Klümper und dessen auf Anabolikaverabreichung basierenden Behandlungsmethoden bewogen hatte, sondern alleine der Wunsch, einen sportmedizinischen Kontrahenten aus dem Feld zu schlagen.

Ausgangspunkt dieses erstmals mit diesem Gutachten veröffentlichten Skandals war ein positiver Testosteronbefund bei einem westdeutschen Leichtathleten, der dann zu Langzeituntersuchungen des Testosteronverhaltens bei dem Athleten führte. Bekannt war auch, dass der Sportler synthetische Anabolika zur Vorbereitung auf internationale Großereignisse zusätzlich eingenommen hatte – er also zweifelsfrei gedopt bei diesen Wettkämpfen an den Start ging. Die Untersuchungen zum Testosteronverhalten wiederum waren eingebettet in wenig überzeugende Argumentationsketten gegen die bundesdeutsche Doping-Analytik, die letztendlich nach der Wende zu einem Aussetzen der indirekten Nachweisverfahren und damit zu einer zeitweise faktisch bestehenden Testosteronfreigabe im wiedervereinigten deutschen Sport beitrugen.

An keinem anderen Sportmediziner und Funktionär des bundesdeutschen Sports lässt sich somit die paradoxe Gleichzeitigkeit von Dopingförderung und Dopingbekämpfung in Westdeutschland präziser aufzeigen als bei Joseph Keul. Das nährt den Eindruck, dass der institutionellen Dopingbekämpfung in der Bundesrepublik historisch mehr eine Alibifunktion zukommt denn einem echten, ehrlich geführten Anti-Doping-Kampf. Und Keul zeigte sich, auch das wurde in diesem Gutachten herausgearbeitet, dem Regelwerk immer nur dann mit besonderer Treue und Inbrunst verbunden, wenn es galt, sportmedizinische Gegenspieler auf dem Feld wissenschaftlichen Arbeitens oder der öffentlichen Wahrnehmung zu schlagen – die Ereignisse auf der Hinterbühne störten ihn dagegen nicht bzw. sie führten zu keinerlei nachweisbaren Aktivitäten gegen das Doping der Athleten.

Über die Situation des Konsums leistungssteigernder Pharmaka im Sport wusste Keul, davon ist auszugehen, ohnehin relativ präzise Bescheid. … Zwar verbot Keul nach Zeitzeugenangaben ab einem nicht genau zu benennenden Zeitpunkt die Formulierung von ärztlichen Diagnosen in Bezug auf den vermuteten Anabolikamissbrauch – die medizinischen Werte, die diese Diagnose zuvor immer begründet hatten, wurden aber weiter pflichtgemäß übermittelt. Damit ist das für den Leistungssport zuständige Ressort des DSB vollumfänglich als Mitwisser des Anabolikadopings in Westdeutschland ausgewiesen. Schlimmer noch: Die dopingepidemiologischen Wissensschätze des BA-L verleihen dem ohnehin schon als systematisch einzuschätzenden Doping des Westens eine besonders anrüchige Note, da dem Deutschen Sportbund vermutlich immer wieder gesundheitsbedenkliche Werte mitgeteilt wurden, aus denen keinerlei Schlussfolgerungen gezogen wurden. … Insofern ist angesichts dieses Wissens der Athleten um das Wissen der Funktionäre beim Doping in Westdeutschland im Bereich des Spitzensports von einem kollektiven und einvernehmlichen Geschehen auszugehen, bei dem die Athleten nicht nur Opfer, aber auch nicht nur Täter, jedenfalls nicht alleinige Täter waren. Die nach der Wiedervereinigung inflationär vorgetragene These, es habe sich beim Doping in der Bundesrepublik im Gegensatz zum Doping in der DDR um jeweils individuelle oder jedenfalls noch überschaubare subkulturelle Abweichung („verschwiegene Zirkel“) gehandelt, allenfalls durch strukturellen Druck sozial miterzeugt, ist jedenfalls so nicht haltbar. Doping im Westen war in Teilen handfeste kollektive Devianz.

Die staatlich sanktionierte und über das BISp geförderte Studie zu „Regeneration und Testosteron“ zwischen 1986 und 1988/89 ermöglichte es Keul zum einen – öffentlich Studienergebnisse teils falsch darstellend – Liesen im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs massiv zu schwächen. Zum anderen jedoch blieb der einst von Keul selbst vorgetragene Substitutionsgedanke, den er seit 1983 nach außen hin energisch bekämpfte, in der Abteilung lebendig.

Die Studie „Regeneration und Testosteron“ war sportrechtlich eindeutig als Doping zu klassifizieren. Dass daran keine A-Kader-Athleten teilnahmen, wie beschwichtigend eingewendet wurde, ändert daran nichts, da grundsätzlich alle Athleten unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit dem Regelwerk des organisierten Wettkampfsports verpflichtet sind. Eine bewusst gesetzte, als Dopingmaßnahme intendierte Aktion war die Studie gleichwohl eher nicht.

Die wahrscheinlichste Hypothese zu den wahren Zielsetzungen der Studie „Regeneration und Testosteron“ wird also darin zu suchen sein, dass Keul damit dem Spitzensport in der Bundesrepublik, über die er zumindest in beträchtlichen Ausschnitten präzise im Bilde gewesen ist, zu wichtigen Spielräumen bei der Realisierung von Dopingmaßnahmen verhelfen wollte. Auch andere Motive, von denen wohl kaum eines ehrenwert war, dürften eine Rolle gespielt haben, wie etwa das Ziel, lästige Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen.

Dass Keul immer wieder zu Pharmaka forschte, die zum Untersuchungszeitpunkt noch nicht offiziell sportrechtlich verboten waren, deutet ebenso auf eine breitere Anwendungsorientierung hin, die medizinethisch und wissenschaftsethisch kaum weniger problematisch war als die Beschäftigung mit Substanzen, die auf der Dopingliste bereits vermerkt waren. Es ist aus ärztlich-ethischer Sicht nämlich unerheblich, ob leistungssteigernde Medikamente gelistet sind oder nicht – schließlich ist nach Konventionen unter Medizinern jede medizinisch nicht indizierte pharmakologische Intervention zur Leistungssteigerung verwerflich, auch wenn Erklärungen der institutionalisierten Sportmedizin diese wichtige Prämisse in jüngerer Zeit leider nicht mehr mit der gebotenen Deutlichkeit herausarbeiten (vgl. Kapitel 3).

Für den Beginn der 1990er Jahre ist eine Entwicklung bei Keul zu konstatieren, die als beschleunigte Entsolidarisierung mit der allmählich ernster zu nehmenden Dopingbekämpfung in Deutschland beschrieben werden kann. Keul kritisiert in der Tagespresse die seinem Empfinden nach zu umfangreiche Dopingliste, er diskreditiert Nachweisverfahren für Dopingmittel, schlägt sich auf die Seite von dopingverdächtigen Sportlerinnen wie Katrin Krabbe. Nur eines tut er nicht – sich schützend vor solche Athleten zu stellen, die wegen ihrer Dopinggegnerschaft von Teilen des organisierten Wettkampfsports diskriminiert werden. Nach Vorwürfen, die die Autorin Brigitte Berendonk im Herbst 1991 gegen die Protagonisten auch des West-Dopings erhoben hatte, unter anderem gegen Keul, verstärken sich vorher bereits vereinzelt zu beobachtende Entfremdungsprozesse zwischen ihm und der Politik bzw. dem organisierten Wettkampfsport oder dem BISp. Dieses lehnt plötzlich und für Keul nicht nachvollziehbar Teile seiner beantragten Forschungsprojekte wegen nicht erfüllter Formalia ab und besteht, im Nachgang zur Studie „Regeneration und Testosteron“ erstmals überhaupt, auf einer seriösen und branchenüblichen Berichterstattung. Ist es ein Zufall, dass im selben Zeitraum – trotz eindringlicher Warnungen von Kollegen – eine Zuwendung zum Profiradsport erfolgt, sich spätestens ab 1992 Keuls Mitarbeiter Andreas Schmid aktiv an Dopingmaßnahmen beteiligt und mit 1993 der Beginn des systematischen Epo-Dopings im Team Telekom konstatiert werden darf (vgl. Der Spiegel 18/2007; Schäfer et al. 2009; Singler 2015b)?

Zeitzeugeninterview Physiologe Professor Dr. Walter Schmidt (Universität Bayreuth) zu Team Telekom (S. 141):
„Zeitzeuge: Wir haben Anfang 2000/2001 auch länger schon den Verdacht gehabt, dass bis zum Festina-Skandal gedopt worden ist, auch aus dem Verhalten der Leute heraus, wobei das relativ diffus war. Wir hatten keine konkreten Anhaltspunkte. Dann hatten wir gehofft, dass die Leute 1998 damit aufgehört haben und waren dann doch recht überrascht, als 2006 klar wurde, dass es im Prinzip genauso weitergegangen war. Das war meine Position. Ich kann mich an eine Pressekonferenz erinnern, die im Schwarzwald stattfand im Rahmen des Projekts „Dopingfreier Sport“, wo Herr Keul auf Journalistenanfragen geantwortet hat, dass Erythropoietin gar nichts bringen würde, dass es abwegig wäre zu glauben, dass dort im Team Erythropoietin genommen würde. Das ganze EPO-Problem wurde heruntergespielt. Auf der anderen Seite hat er uns gesagt, dass er glaubt, dass Erythropoietin noch anders wirkt als jetzt nur über den Sauerstofftransport. Sondern dass er Informationen hätte, dass, sobald das Erythropoietin gespritzt worden wäre, die Leistungsbereitschaft noch viel größer wäre. Das heißt, dass es im Gehirn den Ermüdungsmechanismus noch mehr heruntersetzt.
Frage: Wann war das etwa?
Zeitzeuge: Das muss kurz vor seinem Tod gewesen sein. So 1999. Ich hatte schon das Gefühl, dass er Bescheid wusste, dass Erythropoietin auf jeden Fall eine Wirkung hat und die Leistung auf mehrere Arten verändert“

… Keul musste Kritik an seiner Arbeit einstecken, die es früher nicht gegeben hätte, etwa an der Freiburger Betreuung von baden-württembergischen Landes-Kaderathleten. Expansionspläne, die Keul für seine Abteilung mit der Gründung des Freiburger Olympiastützunktes verbunden hatte, ließen sich nicht realisieren. …

Für die Telekom bzw. ihren Profi-Rennstall übernahm Keul nunmehr, fast scheint es aus Trotz, jene Funktion, die er zuvor vor allem für den bundesdeutschen olympischen Amateursport oder das Profitennis eingenommen hatte: die des wissenschaftlichen Begleiters, der in der Öffentlichkeit unter Verweis auf sein naturwissenschaftliches Rationalitätsmonopol die angebliche Vereinbarkeit von Weltspitzenleistung und Dopingfreiheit als Normalfall verbürgte.

Das durch Keul auf mancherlei Art geförderte Doping, ob nun erst früher oder später sportrechtlich ebenfalls so zu bezeichnen, ist seit jeher als systematisch zu beschreiben. Doping in der Bundesrepublik war auf eine für demokratische Gesellschaften typische Weise systematisch.

Während Armin Klümper aufgrund seiner hohen Eigeninitiative, mit der er Athleten geradezu massenhaft selbst dopte, in diesem System die Funktion einer Bad Bank zugeschrieben wurde, in die viele Mitverantwortliche ihre dopingkontaminierten Wissenszertifikate auslagern konnten (Singler und Treutlein 2015, Schlusskapitel), ist Keuls Rolle diffiziler. Sie bestand im Wesentlichen darin, nach Möglichkeit das Thema Doping aus dem Kanon öffentlicher Kommunikation über den Spitzensport zu verbannen. Dies versuchte er dadurch zu realisieren, dass er die Existenz des Problems leugnete, die möglichen Schäden in Frage stellte und überdies die Wirksamkeit von Doping grundsätzlich gegenüber der Öffentlichkeit in Zweifel zog.

Keul trat dabei einerseits im Duktus des wissenschaftlichen Gralshüters auf. Seine soziale Rolle war aber dabei eher die eines Sportfunktionärs als die eines Sportmediziners. Keul, und mit ihm nicht wenige andere prominente Sportmediziner in Westdeutschland, schienen teilweise dem leistungsorientierten Spitzensport mehr verpflichtet als einer gesundheitsorientierten Sportmedizin. Er managete in der zunehmend mit Kommunikationstabus belegten Dopingfrage das Image des Spitzensports über die Verstetigung seiner ihn über Jahrzehnte kennzeichnenden Mantren der Marginalisierung.

Für solche Phasen, in denen die Politik vielleicht nicht mehr genau wusste und wissen wollte, wie es um die Dopingproblematik in der Bundesrepublik konkret bestellt war, weil sie nach der für sie ebenfalls peinlichen Manipulationsdebatte 1976/77 aus Gründen des Selbstschutzes und der politischen Gewieftheit „aktiv erblindete“, war Joseph Keul dafür zuständig, das Nichtwissen der Politik sicherzustellen und zu tradieren. … Er selbst dopte zwar nicht, jedenfalls nicht nachweisbar, viele Athleten. Aber Keul erzeugte mit seinen jahrzehntelangen Marginalisierungen, Verharmlosungen und Täuschungen über die wahren Verhältnisse und die wahren Nebenfolgen des Dopings Wirkungen, die genau das mitproduzierten, wozu im bundesdeutschen Sport nach der Manipulationsdebatte von 1976/77 geschwiegen werden sollte: nämlich Doping.

Zeitzeuge Lothar Rokitzki (S. 261 ff):
… Bei den olympischen Athleten war das Problem, dass sie beim Hausarzt was abgeholt haben, beim Verbandsarzt was abgeholt haben, dann sind sie noch zu irgendeinem anderen gegangen, der hat ihnen auch was gegeben, und das ist dann das, wo mir wirklich der Kragen dann steht. Das ist ja bei der Birgit Dressel dann passiert.

Ich habe das beim Skilanglauf mal gesehen, die waren so unter Druck, die Mädchen, die waren unter ‚Ferner liefen‘, die Norwegerinnen haben alles weggeputzt zu der Zeit. Da ist so ein Druck, die wollen alles, die nehmen alles, die flehen einen an, ‚Was können wir noch?‘, und früher haben sie dann eine Vitamin-C-Spritze gekriegt, damit man dann Ruhe hatte. Aber da ist so viel Druck drin.

Frage: Sind Sie als Verbandsarzt gefragt worden, etwas zu geben?
Da werden Sie ständig von den Athleten damit konfrontiert. ‚Was können wir noch machen, um die Leistung zu steigern?‘
Frage: Und die wollen Dopingmittel auch?Die wollen Dopingmittel. Zu dem Zeitpunkt, etwa der […], gut, das war ja ein besonderer Fall, kurz vorher: ‚Hast Du noch mal was? Ich brauch das noch, ich hole die Goldmedaille.‘ […] Wenn Sie Mannschaften betreuen: Je höher das Niveau ist, desto mehr stehen Sie als Mannschaftsarzt immer drin.

Frage: Kann man aus Sicht einer Universitätsklinik in diesem Spannungsfeld eigentlich ‚sauber‘ bleiben, wenn man einen Mannschaftsarzt stellt, der mitreist und unterwegs mit der Mannschaft ist?
Das geht nicht.


Keul erreichte den Zenit seines Einflusses und seiner Strahlkraft als Sportfunktionär, der er teilweise mehr war als ein Sportmediziner, im Prozess der deutschen Wiedervereinigung. Diese Phase aufzuarbeiten ist aufgrund des dazu vorliegenden relativ spärlichen Quellenmaterials nicht Gegenstand dieses Gutachtens gewesen. … Gelegenheit zum Schutz der Dopingopfer und Dopingunwilligen hätte es indessen reichlich gegeben, zurückgehend bis in die 1970er Jahre, als Keul nach eigenen Angaben Kenntnisse vom Anabolikadoping bei Frauen hatte, ohne dass dies jemals zu einer eigentlich fälligenForderung nach Konsequenzen geführt hätte. Man mag ihm glauben, dass er persönlich kein Freund des Anabolikadopings bei Frauen gewesen war – und doch unternahm er dagegen nichts, das jemals an die Öffentlichkeit gedrungen wäre. … Insofern ist glaubhaft, dass Politiker oder ehrenamtliche Spitzenfunktionäre des Sports ab einem bestimmten Zeitpunkt konkret nicht oder nicht mehr in vollem Umfang über die Ausmaße des Dopings im Westen unterrichtet waren. Insofern ist auch glaubhaft, dass innerhalb der von Keul geleiteten Abteilung Sportmedizin nicht alle Mitarbeiter, sondern eher relativ wenige von den devianten Aktivitäten mancher ihrer Kollegen konkret Kenntnis hatten.

Zum anderen sorgte die Politik mit ihren Medaillenerwartungen und Kriterien der Sportförderung, vor allem im Bund, für einen guten Teil jenes strukturellen Drucks, durch den sich Athleten, ihre Trainer und Betreuer oder die Sportverbände zum Doping veranlasst, ja vielleicht sogar gezwungen sahen Es wäre zu einfach, Einzelpersonen aus unterschiedlichen Einrichtungen der Universität Freiburg – vor allem Armin Klümper und Joseph Keul – die alleinige Verantwortung zuzuschieben. Sie sind letztlich zwar jene Protagonisten des Dopings und der Dopingvertuschung mit dem meisten Einfluss in der Geschichte des westdeutschen Dopings. Ihre Bedeutung vermochten sie aber nur über einen Prozess der positiven Selektion aufgrund ihrer Bereitschaft, sich an leistungssteigernden Maßnahmen auf die eine oder andere Weise zu beteiligen, zu entfalten.

Mit anderen Worten: Die Freiburger Stars der Sportmedizin verdrängten in evolutionär verlaufenden Selektionsprozessen im Verlauf der Jahre und Jahrzehnte solche Sportmediziner, die leistungssteigernde Maßnahmen – ob über die Dopingliste erfasst oder nicht – unter Verweis auf das ärztliche Ethos strikt verweigerten. … Dieser Verdrängungsprozess der Dopingunwilligen durch die Dopingaffinen ist aber eine Geschichte der Rezeption durch den Spitzensport ebenso wie durch Politik, Wirtschaft oder Medien. Mit dem Hochleistungssport verbundene Gremien und ihre Unterstützungssysteme hätten sich ohne weiteres anderes Personal, das offen und glaubwürdig dopingkritisch auftrat, suchen können. Letztlich bekamen sie genau jene

Sportmedizin, die ihren auf internationale Wettbewerbsfähigkeit ausgerichteten Zielen entsprechend funktional war. Sie bekamen, was sie – explizit oder auch unausgesprochen – bestellt hatten. Und dazu gehörte auch das Doping.

Es muss stark verwundern, dass die deutsche Politik auch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer nicht die Kraft gefunden hat, sich den selbstproduzierten Nebenfolgen des jahrzehntelangen strukturell erzeugten Dopings des Westens – und natürlich auch des Ostens – in der gebotenen Verantwortlichkeit zu stellen. Dies erschüttert umso mehr, als seit eben dieser Zeit ernsthafte Hinweise auf ein hohes Risiko von Herzschädigungen durch Anabolika-Abusus gefunden wurden, die in Freiburg von Keul noch Ende der 1980er Jahre als Ausdruck einer physiologischen Anpassung („Kraftsportherz“, „Herz des Kraftathleten“) fehlgedeutet wurden (vgl. Keul et al. 1989, 6). Insofern ist nach Jahrzehnten des systematischen Dopings, nicht nur in der DDR, sondern auf spezifische, an den Bedingungen demokratischer Gesellschaften ausgerichteten Weise auch in der Bundesrepublik und danach im wiedervereinigten Deutschland, die Zeit nun reif für eine Systematik der Gesundheitsnachsorge für jene einst gedopten Athleten, denen in Freiburg und zweifellos auch andernorts unter Beschwörung alchemistischer Formeln erzählt wurde, man könne gefahrlos dopen, ohne eines Tages dafür mit seiner Gesundheit bezahlen zu müssen.

Monika